Die gebrochene Tradition

Für die Alte Sitte in heutiger Ausübung gibt es keine ungebrochene Tradition. Sie wurde im Zuge der Christianisierung zumindest als gelebter Glaube vollkommen ausgerottet, das letzte ihr zugehörige Land, Schweden, kann ab 1100 als christlich erachtet werden. Erhalten haben sich lediglich Spuren im Volksglauben, etwa im Aberglauben oder in der Heiligenanbetung, sowie geschichtliche Funde archäologischer und schriftlicher Natur (Runensteine und Manuskripte v.a.).

Aus diesem Grund erachten viele Wissenschaftler eine moderne Rückkehr der Alten Sitte als unrealistisch beziehungsweise nur als das Überstülpen einer Maske auf ein Gesicht, das in Wahrheit rein politisch oder ideologisch ist. Tatsächlich müssen wir uns als Asentreue die Frage stellen, wie tiefgreifend dieses Problem der mangelnden Tradition ist. Was wissen wir tatsächlich, was können wir erfahren? Und spielt es überhaupt eine Rolle? Was muss ein Gläubiger an faktischem Wissen über seinen Glauben wissen, wenn es doch eigentlich vielmehr um spirituelle Erfahrungen geht?

Man kann bei heutigen Asentreuen zweierlei Wissenslücken feststellen: Einerseits das Wissen, das mangels Überlieferung für immer in der vorchristlichen Zeit verborgen bleibt, andererseits das Wissen, das die Forschung zutage gefördert hat, mit dem sich viele Asentreue aber nicht beschäftigen wollen.
Letzteres ist häufig eine nicht entschuldbare Attitüde derjenigen Menschen, die entweder zu wenig Interesse für ihren Glauben hegen oder die ihr eigenes Wissen maßlos überschätzen und dabei übersehen, dass Wissensaneignung niemals beendet ist: Je mehr wir lernen, desto mehr Fragen tun sich auf. Bezeichnen wir uns als Anhänger der Alten Sitte, ist es unsere Pflicht genau zu wissen, was wir anhängen. Unwissenheit ist keine Entschuldigung und noch weniger ist es legitim, wenn im Namen der Alten Sitte Äußerungen getätigt werden, die nicht mit ihr in Einklang gebracht werden können und aus schlichter Unwissenheit heraus begründet werden.

 

Der Unweise
meint alles zu wissen,
wenn er im Winkel weilt;
er weiß nicht,
was er erwidern soll,
fragen ihn andre aus.
(Hávamál, Strophe 26, übersetzt nach Felix Genzmer)

Der Verlust einer Kultur

Weit komplizierter ist die Wissenslücke, die auch dem fleißigsten und bestrebtesten Asengläubigen erhalten bleibt. Sie ist der oben genannte Grund dafür, dass heute noch in einigen Kreisen der Gedanke vorherrscht, es könne keine modernen Anhänger der vorchristlichen Götter geben und tatsächlich ist sie ein nicht zu unterschätzendes Problem. Nicht nur, dass wir viele Dinge nicht wissen, viel schlimmer ist, dass wir nicht annähernd eine Ahnung haben, wie viel uns verloren ging. Ist das, was wir aus unserer Überlieferung sehen, nichts als die Spitze eines gewaltigen Eisberges?
Es ist ein Problem, das niemals gelöst werden kann, da wir die Lücke nicht völlig werden schließen können, heute nicht und auch nicht in hundert Jahren. Der einzige Ansatz zu einer Problemlösung kann also nur die Frage sein, wie wir mit dieser Lücke umgehen. Und auch hier bleibt uns eigentlich nichts anderes übrig, als ihre Existenz zu akzeptieren und unseren Glauben um sie herum zu konstruieren. Die Alternative wäre, die Flinte ins Korn zu werfen und vor dem Problem zu kapitulieren. Unnötig zu erwähnen, welche Möglichkeit als einzige in Betracht gezogen werden kann. Diese Wissenslücke muss uns also nicht um den Schlaf bringen, auch wenn wir sie gleichzeitig niemals vergessen sollten, da es jederzeit passieren kann, dass neue Erkenntnisse der Forschung erheblichen Einfluss auf unser bis dato vertretenes Weltbild ausüben.

Der Grund dieser Lücke, nämlich der Bruch der Tradition, ist ein in meinen Augen erheblich schwerwiegenderes Problem für die erste Generation der heutigen Asengläubigen, und sie bringt uns Schwierigkeiten, die andere Religionen nicht haben. Diese Schwierigkeiten betreffen im allergrößten Teil die Frage nach der Ausübung und dem Verständnis unseres Glaubens: Wie tritt man mit der Gottheit in Kontakt? Welche Feste sind wichtig? Wie wird ein Opfer dargebracht? Wie ist das Verhältnis zwischen Mensch und Gott? Wie ist es zwischen Mensch und Natur?
Diese Fragen und viele mehr sind bei modernen Asengläubigen durch diejenige Religion und dasjenige Weltbild geformt, das sie umgibt, das heißt in den allermeisten Fällen: Christenum, Nächstenliebe, Humanismus und Demokratie. Der natürliche Kreis einer Familie und Gesellschaft, die ihre Werte und Kultur an die Kinder weitergibt, welche in die Rituale hineingeboren wurden und die Götter von klein auf als Teil ihrer Welt erfuhren, wurde bei uns durchbrochen — und das ist für unsere Generation wohl der größte Verlust. Wir müssen uns alles mühsam aneignen, was unseren Vorfahren allein durch die Umwelt eingeflößt wurde. Schon aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir nun alles an Wissen sammeln und verinnerlichen und es in Zukunft unseren Söhnen und Töchtern so weitergeben können, wie es sich für eine Kultur gehört.

Wir sind durch unsere heutige Umwelt derart geprägt, dass wir uns mit fatalem Selbstverständnis an unseren Glauben wenden und ihm Schlagworte aufdiktieren ohne sie noch einmal zu prüfen. Das betrifft einerseits kulturelle Aspekte, die wir gar nicht mehr zu disktuieren bereit sind (Demokratie und Humanismus), da uns ihre Abwesenheit oder Verneinung in Angst versetzt und unserer Vorstellung einer besseren Welt widerspricht; andererseits betrifft es in uns verankerte unbewusste Sichtweisen, die wir dringend überdenken müssen (Unterordnung unter eine göttliche Ordnung, die Vorstellung eines göttlichen Plans).
Als Anhänger einer Sitte, die aus archaischer Zeit stammt und in der Begriffe wie Demokratie und Humanismus (und übrigens auch rechtsradikale Begriffe wie Nationalstolz, Rassimus oder Antisemitismus) und anfangs auch monotheistische Prinzipien fremd waren, muss man den Mut haben, sich diesen vollkommen neutral zu nähern. Wie schwierig das sein kann, verdeutlicht vielleicht das Beispiel mit dem Gottesbild: Während es für Christen und Moslems keinen Diskussionsbedarf in Bezug auf die Allmacht ihres Gottes gibt, muss man sich als Asentreuer durchaus die Frage stellen, ob ein polytheistisches Pantheon mit zum Teil einander diametral entgegengesetzten Gottheiten einen Allmachtsgedanken überhaupt erlaubt.

Politischer Missbrauch

Genau hier sehe ich auch eine der größten Schwierigkeiten für den modernen Asenglauben. Aufgrund des Missbrauchs der Symbolik und der Mythologie während des Dritten Reichs kämpfen die heutigen Organisationen mit einer geradezu krankhaften politischen Auseinandersetzung. Während die einen weiterhin leichtsinnig in den rechten Kreisen marschieren und sich keine Gedanken darum machen, wie wenig die NS-Ideologie damals wie heute mit der nordischen Mythologie gemein hat, sind die anderen derart fixiert darauf, den braunen Dreck herunterzuwaschen, dass sich eine vollkommen irre Scheuklappen-Mentalität herauskristallisiert hat, die dem eigentlichen offenen Gedanken der Alten Sitte genauso entgegensteht wie der ebenso engstirnige Rassismus zu Hitlers Zeiten und darüber hinaus.
Leider führt genau diese NS-Panik dazu, dass moderne Asengläubige den Pfad des Mainstream unter keinen Umständen verlassen wollen und in jeglichen Bereichen angepasster sind als so manch anderer. Genau diese Furcht hindert die Mitglieder daran, eben nicht offenen Geistes auf ihren Glauben blicken, sondern mit gefestigten Vorurteilen und Angstmacherei als moderne Systempolizisten fungieren und hinter jedem kritischen Hinterfragen moderner Machenschaften oder glaubenstechnischer Fragen sogleich antidemokratische und totalitäre Bewegungen wittern.
 
Wir müssen uns nicht dafür entschuldigen, dass unter der Symbolik unseres Glaubens Verbrechen von Menschen begangen wurden, die ihr nicht anhängten, sondern welche die Sitte im Gegenteil selbst missbraucht haben. Wir sind keine Schuldigen an der Sache und aus diesem Grund ist es auch nicht notwendig, dass wir uns diesen Schuh anziehen und den Mund aus Abscheu vor dem damaligen Missbrauchs nicht mehr öffnen, weil wir das fürchten, was zwischen unseren Lippen hervorkommen könnte.
Sind wir stolze Anhänger unserer Firnen Sitte oder von Angst und schlechtem Gewissen geknechtete Verbrecher? Jeder Asengläubige, der glaubt, sich von den NS-Verbrechen distanzieren zu müssen, der erkennt seine Schuld und die Verwandtschaft zwischen heutiger Alter Sitte und damaligen „arischem Glauben” an, und macht sich so erneut eines Missbrauchs unseres so viel älteren Kultes schuldig.

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Kommentare: 5
  • #1

    Nachtsegler (Montag, 17 Dezember 2018 18:12)

    Toll geschrieben! Nur wenn ich mich (ungefragt) rechtfertige, erkenne ich die Anklage überhaupt erst an. Warum aber sollte ich dies tun..?

  • #2

    Eichenstamm (Mittwoch, 19 Dezember 2018 13:35)

    Sehe ich gleich! ;)

  • #3

    Bisou (Mittwoch, 01 April 2020 14:56)

    Es geht nicht um schuld. Es geht um Verantwortung! Begreift das doch endlich mal.

  • #4

    Eichenstamm (Mittwoch, 01 April 2020 15:55)

    Es stimmt, dass ich oben von Schuld spreche.
    Aber dasselbe trifft m.E. auch auf Verantwortung zu. Ich muss nicht Verantwortung für etwas übernehmen, mit dem ich nichts zu tun habe.

    Wir leben in einer Zeit, in der man ständig für etwas Verantwortung zugesteckt bekommt, was einen nichts angeht. Und gleichzeitig wird Verantwortung hin und her geschoben, wo sie tatsächlich notwendig wäre.
    Ich bin dafür, Verantwortung zu übernehmen. Aber für die eigenen Taten - nicht für die Taten, die irgendjemand vor 80 Jahren begangen hat.

  • #5

    Sucher (Sonntag, 27 Februar 2022 21:15)

    Sehr vernünftig diese Haltung..