Kritik der Wissenschaft

Die besondere Herausforderung des modernen Asenglaubens ist die gebrochene Tradition und die unvollständige Überlieferung. Das dies gute tausend Jahre zurückliegt, macht die Situation zusätzlich schwierig. Aus diesem Grund wird in der Wissenschaft häufig die Haltung vertreten, ein moderner Asenglaube sei nicht möglich, die Anhänger gar nur „Ewiggestrige” oder „Unterpriviligierte”, die in dem Glauben „ein Sinnangebot” sehen „oder, besser gesagt, den Traum an eine heile, andere Welt, den ihnen das Christentum oder andere zeitgenössische Ideologien nicht mehr geben zu können scheinen” (Simek). Vielmehr als ein Glaube wird die moderne Asentreue also als Ideologie betrachtet, welche häufig gar in Extreme abdriftet.
In der öffentlichen Meinung betrifft das vor allem rechte Kreise: Nicht nur, dass dem „germanischen Heidentum” noch heute ein schlechter Ruf anhaftet, aufgrund der Beschäftigung des Dritten Reiches mit dem „Germanenerbe” sowie der Verwendung von Runen und Swastika. Tatsächlich haben sich auch noch Jahrzehnte danach angeblich „heidnische” Gruppierungen nebst Wiederbelebung des Glaubens vor allem mit rechtem Gedankengut befasst.
Weniger bekannt ist, dass heutige Asengläubige davon vielfach explizit Abstand nehmen, ja im Gegenteil eine linksgerichtete bis linksextreme Haltung in Ásatrú-Reihen zu beobachten ist. Noch heute befassen sich die Anhänger unverhältnismäßig viel mit politischen Ideen, seien es linke als auch rechte, wobei keine von beiden Seiten einer tatsächlich authentischen Glaubensausübung nahekommen kann, da die Alte Sitte wie jeder andere Glaube fernab von politischen Gesinnungen verstanden werden muss — zumal seine Wurzel in einer Zeit liegt, in der politische Parteien noch lange kein Thema waren.

Entgegen der wissenschaftlichen Meinung, die Alte Sitte sei aufgrund ihrer gebrochenen Tradition als authentisches Glaubenssystem nicht zu gebrauchen, finden sich heute immer mehr Menschen, die ihre Treue den alten Göttern weihen. Dies wird nicht darum unglaubhaft, weil die Wissenschaft die Alte Sitte lediglich als Forschungsobjekt oder epochalen Kult der Geschichte anerkennt.
Glaubt man an die tatsächliche Existenz von etwas Göttlichem, steht die Alte Sitte anderen Kulten, etwa monotheistischen wie dem Christentum und Islam, an Glaubwürdigkeit in nichts nach. Wird eine überirdische Macht generell verneint, so müssen diese Religionen wie auch die Alte Sitte als „Ideologie” abgetan werden. Lässt man den Glauben anderer Religionen jedoch zu, muss dies auch für die Asentreue gelten: Die alten Götter werden nicht darum inexistent, weil ihr Kult gebrochen wurde. Wie vor tausend Jahren an sie geglaubt werden konnte, so ist dies auch heute noch möglich. Unter diesem Aspekt lade ich jeden Wissenschaftler dazu ein, die alten Götter nicht als „Figuren” oder lediglich „Forschungsobjekt” zu betrachten, sondern den Spieß umzudrehen: Die Disziplin der Altnordistik als Forschung, die sich mit einer Tradition befasst, die tatsächlich einmal lebendig war und wieder sein kann (ähnlich wie es die Theologie für das Christentum ist). Das Göttliche an sich kann nicht inaktuell werden und aus diesem Grund ist eine moderne Asentreue nicht weniger denkbar als ein modernes Christentum, im Gegenteil.

Häufig spricht die Wissenschaft den großen Mangel an Wissen an, der sie im Bereich der Altnordistik beschäftigt. Zwar haben wir einige Quellen zu Göttern und Kultausübung, die Überlieferung kann aber bei Weitem nicht als vollständig betrachtet werden.
Jedoch ist auch hier der Zugang zu rational und zu wenig spirituell motiviert. Ein Glaube lebt vor allem von dem persönlichen Kontakt zwischen Gläubigem/Glaubensgruppe und Gottheit, den sogenannten mystischen Erfahrungen. Als Wissenschaftler mag man diese infrage stellen bzw. auf neurochemische Prozesse schieben, als Gläubiger bezieht man sie auf Erfahrungen, die zwar nicht messbar, aber dennoch sehr real sind. Ebenso wie ein Christ zu seinem Gott betet und Antworten zu erhalten meint, so kann ein Anhänger der Firnen Sitte solche Begegnungen haben.
Trotz des Alters der Tradition und trotz des Bruchs, der uns eine Lücke von vielen Jahren bescherte, berichten Asentreue oft von spirituellen Erfahrungen und Begegnungen mit den alten Göttern. Für solche Erlebnisse ist eine vollständige Überlieferung aus alter Zeit nicht vonnöten, wenngleich allein Spiritualität noch kein komplettes Glaubenssystem ausmacht. Um die Alte Sitte wieder aufleben lassen zu können, brauchen wir beides: Spiritualität und historische Krücken dafür, was einmal geglaubt und bei Ritualen gemacht wurde. Es ist eine schwierige Aufgabe, die wir uns gestellt haben, aber sie ist nicht unmöglich.


Quellen

Simek: Simek, Rudolf, Religion und Mythologie der Germanen, Konrad Theiss Verlag, Darmstadt 2014 (2003), S. 14.

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Kommentare: 6
  • #1

    Smigel (Donnerstag, 10 Mai 2018 17:07)

    Schöner, interessanter Text. Ich hoffe das diese Seite eine große Reichweite erreicht.

    Ich finde das Thema sehr interessant und würde mich gern mit Anderen austauschen !

  • #2

    Eichenstamm (Montag, 14 Mai 2018 17:30)

    Ich danke dir!

    Einen größeren Austausch würde ich mir auch wünschen und bin auch immer offen für jegliche Gespräche. Mangels besserer Infrastruktur (den Eldaring unterstütze ich nur ungern) bleibt da allerdings immer nur Mailkontakt übrig ...

  • #3

    Nachtsegler (Donnerstag, 20 Dezember 2018 07:09)

    Überlieferung und Emergenz, Entwicklung und innere Resonanz. Das Zusammenspiel alter Sitte (als überlieferter ritueller Rahmen) und fortschreitender spiritueller Zufriedenheit ergibt m.E. eine gangbare Möglichkeit. Stellt sich die Frage nach der Balance...

  • #4

    Eichenstamm (Donnerstag, 27 Dezember 2018 16:26)

    Hallo Nachtsegler,

    ich denke, die Frage nach der Balance ist die Schlüsselfrage.

  • #5

    Nachtsegler (Freitag, 18 Januar 2019 07:03)

    Tja, da diese indes eine subjektiv zu bewertende Größe darstellt, wird es herausfordernd sein, ein attraktives Maß zu finden. Wobei: geht es primär um Anziehungskraft oder vielmehr um Entstehungssschub?

  • #6

    Eichenstamm (Freitag, 18 Januar 2019 10:39)

    Sowohl als auch, denke ich. Eine Gruppe mit Entstehungsschub wird mit viel Elan und Begeisterung starten und wohl auch viel erreichen. Dadurch wird Anziehungskraft vielleicht automatisch verursacht.
    Aber auf lange Sicht ist Anziehungskraft m.E. schon der wichtigere Faktor.