Skaldik 6: Eddische und skaldische Dichtung

Eine Frage, die die Skaldenforschung schon lange umtreibt, ist jene nach dem Unterschied von eddischer und skaldischer Dichtung, also den Liedern der Edda und der Preisdichtung, die zum Beispiel auf Fürstenhöfen vorgetragen wurde. Zweifellos ist ein Unterschied erkennbar, es ist jedoch schwierig, diesen auf eine Definition herunterzubrechen. Da der Begriff „eddisch” ohnehin erst eine Erfindung des 17. Jahrhunderts ist, muss außerdem beachtet werden, dass jegliche Trennung zwischen den beiden Kunstformen auf modernen Ansichten beruht und zur Zeit der Verfassung von skaldischen bzw. eddischen Liedern nicht vorgenommen wurde.

Die Definition nach Klaus von See

Laut Klaus von See beschreibt das Wort „eddisch” die Dichtung von germanischen Göttern und Helden und bezieht sich demnach auf den Inhalt. Damit wären auch Gedichte außerhalb der Lieder-Edda, welche sich mit diesen Thematiken beschäftigen eddisch. Eine Schwierigkeit ergibt sich dadurch, dass zwar eine Sammlung eddischer Dichtungen existiert (Codex Regius, also die Lieder-Edda), nicht aber eine Sammlung skaldischer Gedichte, anhand welcher man letzteren Begriff festmachen könnte. Skaldenstrophen finden wir nur in Prosatexten in zerstreuten Zitaten (Snorra Edda, Sagas u.a.).
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Skaldenstrophen situationsgebundene Gesellschaftsdichtung sind, also stark subjektiv und emotional, während eddische Dichtung episch und häufig nicht von Anfang an strophisch war. Eddische Dichtung will erzählen und Wissen vermitteln, skaldische Dichtung wirken. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass eddische Dichtung anspruchsloser und gering geschätzter war, wie das Beispiel weiter unten zeigen soll.
Eddische Dichtung ist außerdem anonym, Skaldenstrophen dagegen überliefern meistens den Namen ihres Urhebers - wenn dieser fehlt, so ging er wohl erst durch die Überlieferung verloren.

Versformen

Wie bereits in den vorigen Artikeln erwähnt, gibt es zahllose Versformen für Skaldenstrophen. In seiner Snorra Edda belegt Snorri in seinem letzten Teil, der Háttatal, allein über 100 unterschiediche Versmaße.
Anders ist es bei der eddischen Dichtung, wo man nur zwei unterschiedliche Versmaße feststellen konnte, nämlich das Ljóðaháttr und das Fornyrðislag.

 

In der Überlieferung finden wir eddische Gedichte in:

  • 29 Liedern der Lieder-Edda (Codex Regius) und dem Lied „Baldrs draumar” (aus dem Fragment AM 748)
  • Eddica Minora („Lieder eddischen Typus”, welche auf Heusler und Ranisch 1903 zurückgeht, beispielsweise die Hildibrandsmál)
  • Aus anderen Quellen und Fragmenten (beispielsweise einzelne Strophen, welche die Snorra Edda zitiert)


Man vermutet, dass die eddischen Lieder nur gesprochen, nicht instrumental untermalt oder gesungen wurden.

Beispiel der "Minderwertigkeit" einer eddischen Strophe

In den Handschriften Morkinskinna und Heimskringla wird von einer Annekdote erzählt, welche in der Wissenschaft die These bestärkt hat, dass ein qualitativer Unterschied zwischen eddischer und skaldischer Dichtung besteht und schon vor tausend Jahren bestand. Hiernach dichtete der Norwegerkönig Haraldr harðraði vor der Schlacht von Stamfordbridge im Jahre 1066 eine Skaldenstrophe (übersetzt nach Klaus von See):

 

Framm gǫngum vér

í fylkingu

brynjulausir

und bláar eggjar.

Hjamlar skína,

hafkat mína:

nù liggr skrúð várt

at skiptum niðri.

 

Vorwärts gehen wir

in der Heeresordnung

brünnenlos

unter die schwarzblauen Klingen.

Die Helme leuchten,

ich habe meine (Brünne) nicht:

es liegt nun unsere Rüstung

unten in den Schiffen.

 


Diese Strophe aber verwarf Haraldr mit den Worten: „Das ist schlecht gedichtet, und es wird nötig sein, eine zweite bessere Strophe zu machen.” Nun ist die erste Strophe allerdings in jenem Stil verfasst, der als eddisch anerkannt wird, und somit deutet die Forschung die Worte Haralds als Geringschätzung des eddischen Stils allgemein.
Die zweite Strophe im typisch skaldischen Stile lautet:

 

Krjúpum vér fyr vápna

(valteigs) brǫkun eigi

(Svá bauð Hildr) at hjaldri

(haldorð) í bug skjaldar.

Hátt bað mik, þars mœttusk,

menskorð bera forðum,

Hlakkar íss ok hausar,

hjalmstall í gný malma.

 

Wir kriechen nicht wegen des Waffenlärms – so gebot es die worthaltende Hildr des Falkenlandes (Frau) – in der Höhlung des Schildes zum Kampf. Es bat mich einst die Halsringstütze (Frau), aufrecht zu halten, dort wo sich träfen Hlökks Eis (Schwert) und die Schädel, den Helmaltar (Kopf) im Lärm der Waffen.


Die weit größere Komplexität ist allein schon darin zu erkennen, dass sich von See für die Übersetzung gänzlich von der Strophenform verabschiedet hat. Die Klammern im Original deuten zusätzlich auf Zäsuren hin, also eingeschobene Sätze im Hauptsatz - und auch dies ist ein Zeichen hoher Kunstfertigkeit und Qualität. Etwas weniger auffallend, aber darum nicht unwichtiger sind die vielen Kenningar, die Binnenreime und die Sechssilbigkeit der Verse.
Weitere Unterschiede ergeben sich inhaltlich: Während die erste eddische Strophe noch erzählt, steht bei der zweiten Strophe ganz klar die emotionale Komponente im Vordergrund. Durch die Negation wird sie sogar regelrecht unepisch, nicht länger geht es um die Schlacht, sondern um Haralds Aussage, dass er keine Angst hat. Der Auftritt der Frau bringt außerdem eine subjektive Motivation mit ins Spiel und ist somit situationsgebunden.

Das mythologische Erbe

Níðdichtung und Neidingswerk



Quellen

Klaus von See: Klaus von See, Skaldendichtung. Eine Einführung, Artemis & Winkler Verlag 1984

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