Die Kenning ist das herausragendste Stilmittel der Skaldik und bezeichnet eine Umschreibung. Meist ist diese komplex und schwer verständlich. Um sie zu entschlüsseln braucht der Zuhörer Kreativität, häufig aber auch grundlegendes mythologisches Wissen. Die Beschreibung von Kenningar nimmt den größten Teil in der Snorra Edda ein, nur ihretwegen erklärt Snorri überhaupt in seinem Werk äußerst umfassend und detailliert die nordische Mythologie.
Unterscheidung von Kenning und Heiti
Im Altnordischen bezeichnet der Begriff heiti (von „heita” = heißen) etwas, das sprachlich erfasst, also benannt wurde. Dabei wird in ókent heiti (ungekennzeichneter
Ausdruck) und kent heiti (gekennzeichneter Ausdruck) unterschieden. Das Wort „kent” kommt vom Verb „kenna” und bedeutet so viel wie „kennzeichnen, wahrnehmen”. Es ist
verwirrend, dass im Altnordischen beide Ausdrücke mit heiti gebildet werden, meist wird aber ohnehin nur mit der Übersetzung gearbeitet. Diese also heißt:
ókent heiti = Heiti
kent heiti = Kenning
Worin unterscheidet sich nun eine Kenning von einem Heiti?
Snorri zufolge ist eine Kenning stets zweigliedrig, in der im ersten
Artikel besprochenen Strophe gilt das etwa für „geira hregg” (Sturm der Speere), „egglituðr” (Klingenfärber = Färber der Klingen) oder „dynr Skǫglar” (Lärm der
Skögul).
Ein Heiti dagegen besteht aus einem einfachen Ausdruck, ein bekanntes Beispiel ist der Beiname Odins „allfǫður” (Allvater).
Inhalt der Kenningar
Eine Kenning besteht aus einem Grundwort und einem genitivischem Bestimmungswort. Das
Grundwort ist hierbei nichtssagend und irreführend, erst durch das Bestimmungswort wird auf seine eigentliche Bedeutung zurückgelenkt. Im Altnordischen nennt man diesen Vorgang „kenna til
eins”, also „kennzeichnen auf etwas hin”.
Eine klassische Kenning wäre z.B. Baum des Schwertes. Der Baum bezeichnet hierbei etwas Großes, Aufrechtes, nämlich den Mann. Ein Mann mit Schwert ist demzufolge ein Krieger.
Nicht immer muss eine Kenning aus zwei einzelnen Wörtern bestehen. Wie im Deutschen ist es auch im Altnordischen möglich, zwei Nomen zu einem Wort zusammenzuflicken, wie es im obigen Beispiel
„egglituðr” für Klingenfärber geschehen ist.
Meistens verbinden Kenningar zwei Wörter aus unterschiedlichen Vorstellungsbereichen, sodass der Reiz einer Kenning in ihrem inneren Spannungsverhältnis liegt. Sie arbeitet nicht mit passenden
und anschaulichen Bildern, sondern versucht gedankliche Verbindungen zu schaffen. Das heißt, dass die Kenningar — bildlich — weder mit dem Inhalt der Strophe noch mit anderen darin verwendeten
Kenningar zusammenpassen müssen.
Adjektivische Ergänzungen und mehrgliedrige Kenningar
Eine Kenning kann mit Adjektiven ergänzt werden. Dadurch kann etwa das Bild, das beim Zuhörer entstanden ist, zerstört oder aber die eigentliche Bedeutung hinter dem Grundwort betont werden.
Deutlich wird das beim Beispiel „bǫðserkja birki barklaust”, also den „borkenlosen Birken der Kampfhemden”, einer Kenning für Krieger (nach demselben Prinzip wie oben: Birke des
Kampfhemdes, also Baum mit Waffe/Kriegerkleidung).
Der Zusatz „borkenlos” soll hier betonen, dass eben keine tatsächlichen Birken, sondern Männer gemeint sind.
Sehr verspielt, aber weitaus komplizierter wird die Sache, wenn der Skalde mehrgliedrige Kenningar verwendet. Dabei wird das Bestimmungswort der ersten Kenning in einer zweiten Kenning aufgelöst.
Denkbar ist, auch deren Bestimmungswort wiederum in einer dritten Kenning aufzulösen. Theoretisch kann das bis in die Unendlichkeit fortgeführt werden, Snorri verweist in seiner Edda allerdings darauf, dass spätestens nach der siebten Kenning Schluss sein sollte, da das nichts mehr mit gutem Stil zu tun hätte.
Erarbeiten wir ein Beispiel für solch eine mehrgliedrige Kenning: Eine einfache Kenning für Krieger wäre „Ahorn des Schwertes”. Das Schwert wiederum können wir in die gebräuchliche Kenning „Lauch
der Schlacht” verwandeln; die Schlacht wiederum hatten wir oben als „Lärm der Skögul” (Walküre). Damit hätten wir eine viergliedrige Kenning: Der Ahorn des Lauches des Lärmes der Skögul.
Bei der Auflösung einer solchen Kenning muss diese von hinten nach vorne entschlüsselt werden. Was ist der Lärm der Skögul — die Schlacht. Was ist der Lauch der Schlacht? usw.
Typische Beispiele von Kenningar
Menschen werden in Kenningar gerne mit Bäumen im Grundwort umschrieben. Männer sind hierbei männliche Bäume, Frauen sind weibliche Bäume. Sehr verbreitet sind außerdem Asen oder Asinnen ohne dass
eine solche Verwendung als anmaßend empfunden wurde.
Als genitivisches Bestimmungswort können bei Männern Waffen, Eigentum oder Herkunft verwendet werden, bei Frauen sind Schmuck, Frauenkleidung oder Getränke üblich.
Beispiele: Ahorn des Schwertes, Thor des Feldes, Weide des Biers, Sif der Goldringe.
Ein weiteres wichtiges Themengebiet ist das Schlachtfeld. Häufig werden im Bestimmungswort Raben oder Wölfe verwendet, etwa Flur der Raben oder Tafel der Wölfe.
Schiffe werden oft als Pferde bezeichnet (man reitet auf ihnen zu Wasser wie mit Pferden an Land), so etwa als Pferd der Woge.
Die Dichtkunst wird als Kwasirs Blut, Suttungs Met oder Schiff der Zwerge bezeichnet. Diese Kenningar spielen auf die Sage von Odins Raub des Dichtermets an und machen deutlich, wie wichtig das
mythologische Wissen sowohl zum Dichten der Strophen als auch zum Verstehen ist.
Wirkung in der Strophe
Eine Kenning verlangsamt das Tempo einer Strophe beträchtlich. Zum einen führt ihre häufige Verwendung in der Skaldik dazu, dass die nominalen Wörter stark überwiegen und somit kaum Handlung stattfindet. Zum anderen ist der Inhalt einer Kenning komplex, sodass die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft darauf gezogen werden muss, die
Kenning zu entschlüsseln, anstatt der Handlung zu folgen.
Kenningar werden aus eben diesem Grund in epischen Texten so gut wie gar nicht verwendet. Sie unterbrechen die fortlaufende Erzählung und sind der Epik daher absolut nicht förderlich. Auch in den
Liedern der älteren Edda findet man Kenningar vor allem in der wörtlichen Rede - also dort, wo die Erzählung still steht.
Herkunft der Kenning
Bis heute ist die Herkunft der Kenning ungeklärt. In anderen Sprachen kann man vereinzelt kenningähnliche Satzgefüge erkennen, im Griechischen etwa, aber ein solch übermäßiger Gebrauch wie in der
altnordischen Skaldik ist einzigartig. Am häufigsten findet man ähnliche Bildungen im Irischen - diese können allerdings nicht als Vorläufer für die skaldischen Kenningar gelten, da letztere
bereits vor der Wikingerzeit verwendet wurden, erste Kontakte zu den Iren aber erst während dessen nachgewiesen werden können.
Es gibt unterschiedliche Theorien zur Herkunft, unter anderem auch die Vermutung, Kenningar seien gebildet worden, um versteckt Magie zu wirken.
Auf all diese Theorien möchte ich gar nicht präziser eingehen, da die Herkunft dieser Stilfigur in meinen Augen unerheblich ist, zumal keine dieser Theorien die nötige Beweiskraft aufbringt.
Woher die Kenning kommt oder warum sie verwendet wurde, wird uns außerdem keine weiteren Interpretationsspielräume bieten. Selbst wenn man herausfinden sollte, dass die Skalden aus dem Norden
diese Eigenheit von den Iren übernommen hätten, würde sich doch die Frage stellen, woher die Iren sie wiederum haben.
Persönlich halte ich nichts davon, solche Forschungsfragen auf ein anderes Volk und somit andere Forscher abzuwälzen, denn tatsächlich hat man so am Ende keine Frage wirklich beantwortet.
Vielmehr sollte man es in meinen Augen in Erwägung ziehen, dass dieses Volk vielleicht tatsächlich etwas selbst erfunden hat und nicht immer nur beeinflusst wurde.
Form und Inhalt
Gedichtformen und Versmaß
Quellen
von See: Klaus von See, Skaldendichtung. Eine Einführung, Artemis & Winkler Verlag 1984
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