Schamanismus

Bei modernen Asentreuen wird sehr häufig der Begriff Schamanismus gefunden, sei es als esoterischer Weg der Selbsterkenntnis und Heilung (siehe etwa Edred Thorsson), sei es als Attribut für Odin, dessen Tierverwandlungen, Selbstopfer und Rolle als Wanderer zwischen den Welten den Schamanen par excellence darzustellen scheinen. Hin und wieder trifft man auf Gegenmeinungen, die betonen, der Schamanismus stamme ursprünglich aus Sibirien, in der Masse gehen diese allerdings unter. Neben zahllosen modernen Runenmagiern und Heilpraktikern, die sich auf den Schamanismus beziehen, wirken vor allem andere indigene Urkulturen als gute Gegenbeispiele, nord- und südamerikanische Völker etwa, afrikanische Gruppen und die Samen aus Lappland, bei denen man Schamanismus ebenso vorzufinden glaubt. Bei all diesen Stämmen sind „schamanische” Riten und Personen bezeugt. Ist damit also belegt, dass Schamanismus eben nicht nur aus Asien stammt und auch für den europäischen Norden angewandt werden kann?

Herkunft des Schamanismus

Tatsächlich kommt der Schamanismus aus Sibirien und der Mongolei, namentlich von den tugusischen Völkern, die sich heute noch in diesen beiden Gebieten sowie in China befinden. So entstammt der Begriff auch dem Tungusischen „šaman”, was so viel bedeutet wie „sich rückwärts bewegende Beine”. Die Wortwurzel „šam(a)” heißt „den Rivalen zurückdrängen”, „sich mit Frauen paaren”. Vielleicht ist es mit dem vedischen sram- verwandt, das „Askese ausüben” bedeutet (RGA).
Der erste schriftliche Beleg des Wortes findet sich in der Biographie des Avvakum als „šamanit”, einem Verb, das etwa mit „schamanisieren” beziehungsweise „zu einem Schamanen machen” übersetzt werden kann (nach Sergio Botta).
Die Interpretation des Begriffes geht weit auseinander und auch in Forscherkreisen ist man sich nicht einig, welche Charakteristika in einer Kultur vorhanden sein müssen, damit man von Schamanismus sprechen kann. Dabei gibt es Extreme in beide Richtungen — Mircea Eliade etwa verstand Schamanismus als „Ekstasetechnik”, wobei darunter unzählige Ausprägungen fallen, die vom ursprünglichen Schamanismus weit entfernt sind. Andere sind der Meinung, der Begriff sei zeitlich und geographisch begrenzt und nicht für andere Völker anwendbar, auch wenn deren Kultur und Rituale „schamanische” Züge besitze.

 

„Bisogna osservare che diverse di queste caratteristiche sciamaniche e di altre che qui sarebbe lungo enumerare, ricorrono anche nell’attività di altri stregoni ed è perciò che i termini sciamano e sciamanismo vengono adoperati spesso in senso largo anche al di fuori dell’area culturale indicata in cui, tuttavia, quelle caratteristiche hanno una precisa concomitanza e un rilievo particolare.”
Brelich, S. 63

„Man muss beachten, dass einige dieser schamanischen Charakteristika und anderer, welche hier zu lang zu benennen wären, auch in der Aktivität anderer Medizinmänner wiederkehren, und es kommt daher, dass die Begriffe Schamane und Schamanismus oft in weitgefasstem Sinne und auch außerhalb des hier angebrachten Kulturkreises angewandt werden; nichtsdestotrotz haben diese [schamanischen] Charakteristika ein präzises gemeinsames Vorkommen und eine besondere Bedeutung.”
Übersetzt nach Eichenstamm

Aufgaben und Wesen eines Schamanen

Angelo Brelich betont, dass der Schamane seine Rolle vor allem in der Extase entfaltet, welche durch verschiedene Hilfsmittel und eigenes Können erreicht wird.

 

„[Gli spiriti aiutano lo sciamano] in stato estatico, indotto mediante mezzi o puramente psichici — ascesi, rullo di tamburi, canti e danze che provocano lo stordimento opportuno — o anche artificiali, lo sciamano, pur restando ‚apparentemente’ presente nel luogo in cui si svolge la seduta sciamanica, ‚in realtà’ compie viaggi spesso fino al cielo o agli inferi, per rintracciare gli spiriti che causano il male per la cui eliminazione si ricorre alla sua opera: p. es. una malattia, concepita per lo più come un ratto, da parte di spiriti, dell’anima dell’ammalato. Lo sciamano, con l’aiuto del suo spirito tutelare, deve riuscire a convincere — con le buone [p. es. offerte] o con le cattive [p. es. ingaggiando combattimento] — gli spiriti ostili a desistere dal loro atteggiamento. Nelle sue imprese lo sciamano spesso ha bisogno di trasformarsi in animali vari — in uccelli, per volare, in belve per combattere, ecc.”
Brelich, S. 62-63

„[Die Geister helfen dem Schamanen] im Zustand der Extase mithilfe eines Mediums oder rein psychisch induziert — Askese, Trommelwirbel, Gesänge und Tänze, welche die notwendige Benommenheit provozieren — oder auch mithilfe handwerklicher Mittel; der Schamane bewältigt, auch wenn er „scheinbar” an dem Ort bleibt, an dem sich die schamanische Sitzung abspielt, ‚in Wirklichkeit’ Reisen, oft bis in den Himmel oder die Unterwelt, um die Geister aufzuspüren, welche das Übel verursachen, das zu eliminieren der Schamane gerufen wurde: z.B. eine Krankheit, meist erzeugt durch einen Raub der Seele des Kranken vonseiten der Geister. Mithilfe seines Schutzgeistes muss der Schamane versuchen die feindlichen Geister vom Aufgeben ihres Verhaltens zu überzeugen — sei es im Guten (z.B. Angebote) oder im Schlechten (z.B. einen Kampf beginnen). Bei seinen Unternehmungen muss der Schamane sich häufig in verschiedene Tiere verwandeln — in Vögel, um zu fliegen, in Raubtiere, um zu kämpfen etc.”
Übersetzt nach Eichenstamm

 

Man hat sich auf drei Eigenschaften zu einigen versucht, die Schamanismus ausmachen (RGA):

  1. Seelenreise
  2. Bekämpfung von Krankheiten
  3. Kontaktaufnahme zu Hilfsgeistern

Seelenreise

Die Seelenreise bezeichnet einen „besonderen psychischen Zustand”, bei dem eine (der mehreren im Menschen vorhandenen) Seele auf Reise geht. Diese Seelenreise ist gefährlich, da ein Verlust der Seele den Tod des Schamanen bedeuten würde. Die Vorstellung der Seelenreise geht mit einer vertikalen Auffassung des Kosmos einher, bei dem verschiedene Welten übereinander liegen. Diese Welten sind über eine Weltenachse („axis mundi”) verbunden.

Bekämpfung von Krankheiten

Der Schamane erkennt mithilfe von Geistern Krankheiten oder Krisen, welche für die ganze Gesellschaft relevant sind. Diese versucht er zu bestimmen und zu bekämpfen.

Kontaktaufnahme zu Hilfsgeistern

Bei diesen Geistern kann es sich um die Seelen Verstorbener oder unterschiedlicher Tiere handeln, die ihm bei seiner Seelenreise behilflich sind. Sie können auch eine zeitweilige Besessenheit auslösen.

Neoschamanismus

Heute werden mit dem Begriff Schamanismus vielfach Phänomene bezeichnet, die mit dem ursprünglichen Schamanismus nur noch wenig zu tun haben. Der Grund liegt darin, dass von Anfang an verpasst wurde, eine gültige Definition zu ergründen — und bis heute gibt es keine, welcher die Forschung geschlossen zustimmen würde; geschweige denn die Allgemeinheit und die Welt der modernen „Praktizierenden”.
Die Ausbreitung des Terminus auf Völker über alle Kontinente verstreut geschah erst im Laufe der letzten 300 Jahre aufgrund europäischer Schriftsteller und Künstler, unter ihnen auch Berühmtheiten wie Goethe oder Mozart. Selbst Jung verwendet in seiner Psychoanalyse den Schamanen metaphorisch.

Die Wandlung des Schamanismus zum „Neoschamanismus” kann anhand folgender Punkte nachverfolgt werden (nach Botta):

  1. Unsichtbarkeit des Schamanismus (13. bis 16. Jahrhundert)
    Europäische Reisende durchqueren Sibirien ohne sich der schamanischen Praktiken bewusst zu werden.
  2. Entdeckung der Schamanen (17. Jahrhundert)
    Kolonialisierung der tungisischen Gebiete durch die Russen; der Begriff „Schamane” taucht zum ersten Mal in den indoeuropäischen Sprachen auf. Die europäischen Gelehrten nehmen den Begriff auf und wenden ihn für das „religiöse Fremde” an.
  3. Erfindung des Schamanismus (18. bis 19. Jahrhundert)
    Verwendung durch unzählige Gelehrte, etwa Goethe und Mozart.
  4. Verallgemeinerung des Schamanismus (19. bis 20. Jahrhundert)
    Der Begriff wird für die nordamerikanischen indigenen Kulturen übernommen; „Schamane” wird von nun an von den meisten verwendet, um den „indianischen” Ritualdiener bzw. Medizinmann zu beschreiben. Dabei wird die Vorgeschichte des Begriffs vollkommen außer Acht gelassen, nahezu gelöscht. Der Schamane wird als autochthone Bezeichnung der amerikanischen Urbevölkerung genutzt und verstanden.
  5. „Medikalisierung” („medicalizzazione”) des Schamanismus (1914 bis 1964)
    „Medikalisierung ist die Bezeichnung für einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess, bei dem menschliche Lebenserfahrungen und Lebensbereiche in den Fokus systematischer medizinischer Erforschung und Verantwortung rücken, die vorher außerhalb der Medizin standen.” (Wikipedia) Das „Kranke” de Schamanismus wird zum „heilkundigen Schamanismus”.
  6. Objektivisierung des Schamanismus (1946 bis 1964)
    Schamanismus als Forschungsobjekt, wobei ihm ein extasischer Zustand zugeschrieben wird.
  7. Individualisierung des Schamanismus (bis heute)
    Entwicklung zur heutigen Interpretation.


Wie aber kam es zu der Entwicklung und Entwurzlung des Begriffs „Schamane”?
Dass zu keiner Zeit eine gültige Definition bestand, führte zu einer spontanen Benutzung und artete schließlich aus. Diese Krise des akademischen Feldes führte zu einem Graben zwischen Forschung und Allgemeinheit (heute breiter als je zuvor), der übrigens nicht nur im Bereich Schamanismus zu finden ist, sondern auch einen Großteil der altnordischen Akademker und germanischen Asengläubigen voneinander trennt (man vergleiche beispielsweise die Runenforschung bzw. -esoterik).
Heute stehen sich im Schamanismus zwei Strömungen gegenüber, die sich in folgenden wichtigsten Punkten unterscheiden:

 

Akademische Welt Welt der Praktizierenden
 Traditioneller Schamanismus Neo-Schamanismus
„Locus classicus”, d.h. geographische und zeitliche Grenzen des Schamanismus Universalisierter Schamanismus („überall” und für „jedermann”)

Vergleich: Schamane damals und heute

Der Schamane, wie ihn die tungusischen Völker verstanden, unterschied sich vom modernen Neoschamenen ihn vielen Aspekten. In der ältesten bildlichen Darstellung um 1700 ist die ursprüngliche Bedeutung  noch gut zu erkennen: Der Schamane ist nicht nur verkleidet, sondern scheint ein regelrechtes Mischwesen zu sein. An den Füßen hat er Klauen, der Übergang seiner Verkleidung aus Tierhäuten ist fließend zu seiner nackten Haut.
Der Schamane gehört zu der Kategorie „religiöser Spezialist” und ist trotz mancher priesterlichen Rolle kein Priester. Im Gegensatz zu diesem ist er aufgrund „einiger besonderer innerer Eigenschaften berufen” (RGA), auch wenn es mitunter eine Ausbildung oder Initiationsrituale gibt. Manche schätzen den Schamanen als eine der älteste Form des religiösen Spezialisten ein und setzen sein Alter daher auf über 25.000 Jahre.

Früher zeichneten den Schamanen Eigenschaften aus, die man heute kaum noch mit ihm verbindet:

  • Sein Körper ist instabil, unaufhaltsam, unruhig
  • Sein Körper ist hybrid und grenzgängerisch; der Schamane befindet sich an der Schwelle zwischen Mensch und Tier
  • Bewegung des Körpers und dämonische Besessenheit
  • Wahrsagerei und Anrufung von Dämonen
  • Imitation von tierischem Verhalten
  • Unordnung des Körperlichen und Geistigen


Das wilde Auftreten des Schamanen hat vor allem gesellschaftlichen Wert: Indem die Grenzen der Kultur und des Zivilen ausgetestet und überschritten werden, sortiert sich die Gemeinschaft neu und kann sich in ihrer kollektiven Ordnung bestätigen (Crippa). Facetten desselben Prinzips (Auslebung von Unkultur, um sich der Ordnung zu versichern) finden sich bei vielen anderen Kulturen, so etwa auch bei den Germanen und ihrer Wilden Jagd, die bis heute in den Faschings- und Karnevalsbräuchen überlebt hat (*).
Der Schamane in seiner heilenden Funktion dient insbesondere dem Kollektiv, seiner Gruppe.

Erst Autoren der deutschen Romantik machten den Schamanen zu einem Heiler, Künstler und zu einem Meister der Immagination.
Heutzutage wird der Schamanismus als ein alltäglicher Weg für jedermann verkauft, den man in wenigen Minuten erlernen kann, sofern man sich jeden Tag ein paar Momente Zeit für sich selbst und seinen Körper nimmt — ohne allzu große Anstrengungen natürlich. Dabei wird die soziale Komponente des „Urschamanen” vollkommen übersprungen, es ist eine Technik für das Individuum, die Gruppe hat damit nichts mehr zu tun. Aus den archaischen Techniken des Irrsinns sind heute Hausübungen der amerikanischen Gegenkultur geworden. Das Archaische und „Primitive” des Schamanismus wird konsumierbar.

 

Irrsinniger Körper Geheilter Körper
Besessenheit Extase
Krankheit Heilung
Neurose Immagination
Künstlerische Hysterie Prophetische Inspiration
Einfluss des Klimas Harmonie mit der Natur
Horizontale Spannung (soziale Ebene, unkonformes Verhalten) Vertikale Spannung (extasisch, mystisch)
Soziale Funktion Individuelle Funktion

Nordischer Schamanismus

Wie beim Schamanismus als allgemeines Phänomen herrscht bei den Forschern auch darüber Uneinigkeit, ob man im nordischen Glauben Schamanismus über kleinere Spuren hinaus feststellen kann. Während Archäologen (Hedeager, Solli, Price) tendenziell vermehrt für die Schamanismus-Theorie plädieren, halten sich Philologen und Historiker eher zurück.
Unklar ist auch, in welchem Maß von einem schamanischen Einfluss vonseiten der Finnen und Samen ausgegangen werden soll oder ob der nordisch-germanischen Schamanismus selbstständig für sich stehen kann. Eine Schlüsselposition nimmt hierbei der seiðr ein, eine nordische Form der Magie, die von den Schamanismus-Befürwortern als schamanisch bewertet wird. Problematisch ist allerdings, dass nicht genau bekannt ist, was seiðr eigentlich ist und dass ihm viele Teilbereiche zugeordnet werden, deren Verbindung dazu ungewiss ist, etwa útiseta oder galdra.
Da ein Einfluss von finnischen und samischen Völkern außer jeder Frage steht, ist es nicht zielführend nach schamanischem Einschlag aus deren Kulturen zu suchen. Vielmehr muss bewertet werden, inwiefern diese Elemente den eigentlichen nordischen Glauben beeinflusst und ausgemacht haben.

Jens Peter Schjødt (RGA) stellt drei Punkte heraus, welche die Diskussion über nordischen Schamanismus anleiten:

 

  1. Definition von Schamanismus überhaupt,
  2. die Quellenbeurteilung hinsichtlich des seiðr (in Zusammenhang mit möglichen anderen magischen Techniken),
  3. Odins Rolle und Funktion in der nordischen Religion

 

„Natürlich lässt sich Schamanismus so weit gefasst definieren, dass nahezu jede Form von Zauber Ausdruck für diesen Komplex sein kann. Dass man die Welt als beseelt auffasst, dass man mit einer anderen Welt kommunizieren kann, dass sich religiöse Spezialisten finden, die stärker als andere Mitglider der Gesellschaft besondere Eignung zu dieser Art von Kommunikation besitzen, dass man das Schicksal beeinflussen kann — all das sind Elemente, die sich in allen religiösen Kulturen finden, wobei sich das Phänomen selbst als Charakteristikum für einige spezielle Religionen auflöst.
Auf der anderen Seite lässt sich der Begriff so eng definieren, dass letztlich nur eine Reihe sibirischer Stämme als wirklich schamanistisch angesehen werden kann. Wenn es also Anlass gibt, zu glauben, dass sich in der vorchristlichen nordischen Religion Schamanismus findet, so hängt das davon ab, wo innerhalb dieses breiten Spektrums man seinen Platz einnimmt. Dass sich in der nordischen Religion wie auch in den meisten anderen Spuren von Schamanismus finden, lässt sich übereinstimmend festhalten.”
RGA 26, S. 595

Odin als schamanischer Gott

Odin wird sehr häufig als schamanischer Gott herausgehoben und wird dabei als eine Art Beweisstück hervorgehoben. Die Diskussion begann mit Schröders Artikel „Grímnismál” von 1956 in der PBB 80 (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur), in dem er anregte, man solle Odins Rolle in dem Eddalied aus einer schamanistischen Perspektive betrachten.
Odins moderne Rezeption als schamanischer Gott beruht auf Snorri Sturlusons Ynglinga saga, deren Glaubwürdigkeit nicht gesichert ist. Insgesamt ist Odins Rolle jedoch so komplex, dass es schwierig ist, ihn als Schamanen zu bezeichnen.

 

„Hierzu lässt sich auch anführen, dass Odins Fähigkeit, die Gestalt zu wechseln und die Tatsache seines nicht eindeutigen Geschlechts, wie es oft im Zusammenhang mit Schamanen der Fall ist, u.a. mit seiner Rolle als Gott für das Numinose zusammenhängen kann, ein Phänomen, das wiederum in allen Religionen eine Rolle spielt, nicht nur in den ‚schamanistischen’. Schließlich lässt sich noch hinzufügen, dass Odin faktisch ein Gott ist und allein aus diesem Grund kein Schamane im allgemeinen Sinn des Wortes sein kann.”
RGA 26, S. 596

Bewertung des modernen Phänomens

Auch wenn die Forschung sich uneinig ist, bei welchen Religionen Schamanismus zu finden ist und bei welchen nicht, so erübrigt sich diese Frage spätestens in Anbetracht der Neoschamanisten, welche die moderne Gesellschaft überfluten. Ihre Angebote haben mit dem eigentlichen Kern der Sache nichts mehr zu tun, vielmehr handelt es sich bei ihnen um Lebensberater, Esoteriker und Astrologen, oftmals bar jeder Ausbildung und lediglich durch die Lektüre einiger Bücher zum angeblichen Schamanen „geadelt”.
In dieser Hinsicht ähneln sie den Runenmagiern, welche ebenso wenig um die Wurzel ihres Tätigkeitsbereiches wissen und die sich stattdessen durch eine regelrechte Parallelkultur von Esoterikbüchern ausbilden und dieses Wissen später ihrerseits in „runenmagischen” Büchern veröffentlichen. Damit wird die Falschinformation vorangetrieben, die Wurzel des eigentlichen Phänomens nach und nach erstickt.

Sergio Botta sieht den Neo-Schamanismus gelassen und spricht sich für eine Akzeptanz aus, auch wenn er mit dem Original nur noch wenig zu tun hat. Diese Meinung teile ich nicht. Vielmehr denke ich, dass man sich aus Respekt vor dem tungusischen Schamanismus von solcherlei Neoschamenen distanzieren sollte. Ihre Uminterpretation und Kommerzialisierung einer spezifischen Kultur, die Aneignung einer fremden Geschichte steht einer eigentlichen Wertschätzung vollkommen zuwider: Die alten Traditionen werden völlig verwässert und in keinster Weise am Leben erhalten oder geehrt. Vielmehr wird das Sterben der alten Urpraxis gefördert und mit allen Mitteln betrieben — schlimmer als es eine christliche Inquisition mit Scheiterhaufen und Verdammungen könnte.

Selbst wenn man von einem nordischen Schamanismus ausgeht, was, wie oben aufgezeigt, zumindest denkbar ist, dann laufen die Handlungen dieser nordischen Schamanen dennoch dem eigentlichen Kern des Schamanismus zuwider. In den allermeisten Fällen wird der Begriff Schamanismus lediglich verwendet, um die Rolle des Esoterikers aufzuwerten und so mystifizieren — es klingt nach Übersinnlichkeit und Kontakt zur anderen Welt, Trance und Entrückung. Was für schamanische Rituale oder Fähigkeiten den nordischen „Medizinmann” auszeichnen, bleibt meistens offen. Trommelschläge, Klangschalen und Räucherungen sind definitiv keine Praktiken, die einen Unbedarften zum Schamanen machen. Selbiges gilt für die Unterstützung bei der Suche nach dem individuellen Fetch oder Totem (was keinerlei nordischen Bezug hat) oder Traumreisen — all diese Mixturen aus dem indigenen Amerika, dem Orient oder Afrika haben mit dem eigentlichen Schamanismus ebenso wenig zu tun wie mit der nordischen vorchristlichen Kultur.
Wie ich es notwendig finde, sich dem Missbrauch der Runen durch moderne Esoterik entgegenzustellen, weil so ihre eigentliche Vergangenheit vernichtet wird, so finde ich es auch wichtig, selbiges bei einer Praxis wie dem Schamanismus zu tun, der fälschlicherweise importiert wird, wo er nicht hingehört und damit selbst zum Opfer eines Missbrauchs wird.
Man kann es nicht oft genug betonen: Jede Kultur und jeder Kult sind an sich schon vollständig genug — keiner hat es nötig, durch Fremdeinflüsse zwanghaft bereichert zu werden, um irgendwelche Lücken zu füllen. Stattdessen nimmt man seiner eigenen Kultur die Möglichkeit, sich voll zu entfalten. Wo derartige Fremdeinflüsse früher ein Segen und eine Bereicherung waren, sind sie in unserer heutigen globalisierten und informationslastigen Welt ein Fluch, den man genau im Auge behalten sollte.


Quellen

Botta: Die Inhalte wurden zum großen Teil aus dem Vortrag von Sergio Botta der Sapienza Università di Roma vom 27. März 2018 an der Universität Ca’ Foscari Venedig entnommen. Etwaige Falschdarstellungen und eigene Meinungen gehen auf mich und nur auf mich zurück, sofern nicht explizit genannt.
Crippa: Sabina Crippa, aus einer Sitzung des Seminars „Storia delle religioni” im Frühjahr 2018. Etwaige Falschdarstellungen und eigene Meinungen gehen auf mich und nur auf mich zurück, sofern nicht explizit genannt.
Brelich: Brelich, Angelo, Introduzione alla storia delle religioni, Edizioni dell’Ateneo, Roma 1966, S. 62-63.
RGA: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 26, Walter de Gruyter Verlag, Berlin & New York, S. 592-596.
Wikipedia: Wikipedia - Medikalisierung [https://de.wikipedia.org/wiki/Medikalisierung], aufgerufen am 30.03.2018.
(*): Eigene Schlussfolgerung ohne wissenschaftliche Grundlage.

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