Kaunan: Bedeutung in Wissenschaft und Esoterik

Die Rune Kaunan oder Kenaz gehört zu jenen Runen des älteren und jüngeren Futharks, deren Bedeutung nicht vollständig geklärt ist. In sämtlichen skandinavischen Runengedichten wird sie als kaun belegt und mit Krankheiten, die Kinder schaden, beschrieben. Tatsächlich heißt das altnordische Wort kaun so viel wie Beule oder Geschwulst. Einzig im angelsächsischen Runengedicht wird die Form cen überliefert, die Kienspan oder Fackel bedeutet. Der Germanist von Grienberger und der Mediävist Marstrander stellten die These auf, dass cen von *cean stammt, welches auf kaun zurückgehe. Die neue Bedeutung von *cean/cen hätte sich erst nachträglich etabliert.

 

Wir können also festhalten, dass sehr vieles für die Bedeutung kaun = Geschwür spricht, während cen = Fackel in nur einer einzigen Quelle überliefert wird - wobei es auch hier eine Vermutung gibt, wie die angelsächsische Bedeutung sich durch die skandinavische Urbedeutung geformt hat.

Blick ins Bücherregal

Ich war selbst jahrelang dem Irrtum aufgesessen, dass die Rune Kenaz (die der cen-Form entspricht, welche wiederum bekannter scheint als der Name Kaunan) für Fackel stünde. In Gesprächen mit anderen erfuhr ich, dass dieser Irrtum weit verbreitet ist. Also nahm ich mir sämtliche meiner Runenbücher und überprüfte, was sie dazu schreiben.

 

In Klaus Düwels "Runenkunde" führt er die Rune unter "*kaunan (?)" auf und übersetzt sie mit "Geschwür, Krankheit". Das ist wenig überraschend im Buch eines Runenforschers und zeigt dennoch, dass für eine richtige Recherche vonseiten eines Esoterik-Autors nur die richtigen Hilfsmittel oder Bücher zu Rate gezogen werden müssten.

 

In "Runen. Zauberzeichen der Germanen" von Christopher Weidner findet sich der Namen Kenaz mit der Übersetzung "Kienspan, Fackel". Indem anschließend das angelsächsische Runengedicht zitiert wird, in dem Kenaz ja als cen vorkommt, wählt der Autor zwar den umstritteneren Weg der Forschung, bleibt in seiner Argumentation aber zumindest konsequent. Er deutet die Rune auf den folgenden Seiten ausschließlich als Fackel, die Licht ins Dunkel bringt, nennt allerdings bei den schlussendlichen Stichwörtern unter anderem "Überwindung von Krankheiten", was insofern jedoch das Gegenteil der Bedeutung von Geschwür und Krankheit ist.

 

Igor Warneck in seinem Buch "Ruf der Runen. Eine Einführung in die Welt der Runen" entscheidet sich ebenfalls für den Namen Kenaz und nennt diesen germanisch, "kauna" dagegen sei Urnordisch. Er verweist im Altenglischen auf cen, und beruft sich insgesamt ebenfalls ausschließlich auf die Bedeutung der Fackel. In Kenaz sieht er das Feuer und den Spiegel der Erkenntnis.

Erstaunlich ist, dass er eingesteht, sein inneres Gefühl nicht mit der Bedeutung Fackel in Einklang bekommen zu haben. Diese Bedeutung habe er aus Büchern übernommen. "Von der wortwörtlichen Übersetzung her ist dies auch völlig richtig: Kaun = Kienspan = Fackel." Tatsächlich ist diese Aussage jedoch wie oben dargelegt grundfalsch. Warneck preist die Rune als Erkenntnisrune und empfiehlt, sie als Schutzrune um den Hals zu tragen. Glaubt man an die Kraft der Runen - und davon ist auszugehen, wenn man sich ein solches Runenamulett zulegt - dann halte ich es für recht ironisch, sich eine Rune mit der Bedeutung "Krankheit", um den Hals zu hängen, bei der die skandinavischen Runengedichte von einer "Plage für Kinder" und "Leichnam" sprechen.

 

Schließlich und endlich habe ich in Edred Thorssons "Nordische Magie. Schamanismus und Runen-Geheimnisse" nachgeschlagen. Seine Deutung ist wirr und vermischt Krankheit mit Fackel. So bezeichnet er die Rune im älteren Futhark als Kenaz mit der Bedeutung "Fackel (kontrollierte Energie)", während sie im jüngeren Futhark Kaun heißt und für "Weh" steht. Tatsächlich ist diese Differenzierung wissenschaftlich kaum haltbar, vor allem nicht in der sprachgeschichtlichen Reihenfolge, dass sich Kenaz (cen) zu Kaun entwickelte.

In der genaueren Beschreibung der einzelnen Runen gibt Thorsson sowohl das altnorwegische als auch das altisländische Runengedicht wieder, welche beide von Kaun im Sinne von Krankheit sprechen. Er gibt es weiterhin mit "Weh" an, was zwar nicht grundfalsch, aber doch nur blass an die Grundbedeutung heranreicht.

Auffallend ist, dass er im altnorwegischen Runengedicht die betreffende Zeile wie folgt übersetzt "Kummer macht den Mann blass", während in anderen Quellen (Alessia Bauer, Runengedichte) von "Unglück macht den Leichnam aschfahl" spricht. Dazu schreibt Bauer in der Fußnote: "An dieser Stelle emendiert Wimmer (1887) mann 'Mensch', was sich aus einem Vergleich mit den Primärquellen für eindeutig falsch ergibt."

Von dieser schlechten Übersetzung einmal abgesehen nutzt Thorsson also jene Quellen, die Kaun als Krankheit belegen (vertuscht es in der Übersetzung als "Weh"). Dennoch entscheidet er sich bei der Deutung von Kaun für die Rune des Feuers, der Analyse und der Schaffenskraft und missdeutet die Verse des Runengedichtes als Warnung, was bei falscher Anwendung von Kaun geschehe. Einzig in einem Satz erwähnt er, dass sich "bei der Weissagung [von kaun vor] allem [der] Hang zur Degeneration, zu Krankheit und Verfall" zeige. 

Zusammenfassung

Es ist äußerst auffallend, dass sämtliche Esoteriker, die sich mit Runen befassen, die von der Wissenschaft favorisierte These der Krankheitsbedeutung weglassen bzw. höchstens am Rande erwähnen, gleichwohl sie sich teilweise sogar jener Quellen bedienen, die eindeutig für die Krankheit-These sprechen (Thorsson). Bei anderen ist offenkundig, dass sie ihr eigenes Runen"wissen" aus zweifelhaften Quellen ziehen (Warneck); daraus ergibt sich vielleicht die Frage, ob diese "Runenmagier" überhaupt einen einzigen wissenschaftlichen Bericht lasen oder ob sie ihre Kenntnis nicht vielmehr bloß aus anderen esoterischen Büchern gezogen haben, die mit dem Ursprung der Runen längst nichts mehr zu tun haben.

 

Dass "Fackel" für den modernen Runenmagier eine passendere Bedeutung ist als das hässliche Geschwür ist selbsterklärend. Eine Rune der Erkenntnis wirkt besser als eine Rune des Dahinsiechens. Zumindest geht meine Vermutung dahin, dass das der einzige Grund für die Distanzierung die Esoterikbücher von den wissenschaftlichen Thesen ist.

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Kommentare: 10
  • #1

    Tsaphyre (Samstag, 29 September 2018 22:12)

    Wow, das ist ja spannend. Ich kannte natürlich auch nur die in der Esoterik verbreitete Deutung als Kienspan. Eine Beule oder Geschwulst, uh, das klingt ja unschön. Bei Kinderkrankheiten würden mir in diesem Zusammenhang wohl am ehesten noch Masern und Windpocken einfallen ...

    Ich habe mich schon immer gefragt, nach welchen Kriterien denn eigentlich die Namen für die Runen ausgewählt wurden. Ich dachte mir immer, dass es wohl wichtige Lebensthemen sein müssen oder Dinge, Tiere und Orte, die für das Leben der Menschen besondere Bedeutung haben. Wenn es so wäre, wäre jedenfalls Krankheit ganz sicher eines der Themen, das Erwähnung finden sollten. ;-)

  • #2

    Eichenstamm (Sonntag, 30 September 2018 18:32)

    Hey Tsaphyre,
    da hast du ja ganz ohne Link auf meinen Blog gefunden ;-)

    Es gibt ja durchaus überlieferte Bedeutungen von Runen, die einen sind besser belegt, die anderen weniger gut (und können kaum rückerschlossen werden wie z.B. Pertho). Aber die meisten Runen scheinen einen engen Bezug zum _kultischen_ Leben der Germanen zu haben.

  • #3

    Jacqueline (Samstag, 29 Dezember 2018 20:23)

    Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Intuition mir immer den richtigen Weg gezeigt hat, so habe ich schon manche Fehlinterpretation in der Edda oder auch Fehlübersetzung gefunden und kann sie an allen Stellen durch logische Schlüsse auch beweisen. Daher empfehle ich euch, wenn ihr auch so eine Gabe habt, vertraut darauf.

  • #4

    Eichenstamm (Freitag, 04 Januar 2019 11:00)

    Was hat dir denn deine Intuition bei Kaunan gesagt?

  • #5

    Sajanka (Freitag, 22 Mai 2020 13:06)

    Könnte man vielleicht eine Assoziation zu Karma herstellen?!

  • #6

    Eichenstamm (Samstag, 23 Mai 2020 09:53)

    Hallo Sajanka,

    meinst du sprachlich oder inhaltlich?

    Sprachlich empfinde ich es als etwas weit hergeholt, aber da ich über das Sanskrit wenig bis gar nichts weiß, kann ich es natürlich auch nicht kategorisch ausschließen.

    Inhaltlich sehe ich zwischen Kaunan und Karma keine Gemeinsamkeiten, zumal das Konzept von Karma bei den germanischen Völkern wohl nicht existierte. Alles andere wäre mir neu und ist m.W. nur neumodischen esoterischen Strömungen zuzurechnen.

  • #7

    ibins (Samstag, 05 Dezember 2020 00:36)

    auch fieber verbrennt. entzündungen sind feuer im körper. sind slles hoch aktive, energetische prozesse mit ziel den Körper wieder zu heilen. so hab ichs mir verbunden.

  • #8

    Luzitara (Donnerstag, 04 August 2022 13:34)

    ,,ibins" deine Worte sprechen mich sehr an.. kauna lies mich aufhorchen und erinnern an chiron.. den verletzten heiler.. in der astrologie ist er urwunde und medizin/heilung zugleich... feuer verbrennt.. etwas neues entsteht.. wie phoenix aus der asche.. ein geschwür als sprache des kœrpers.. die zur heilung/transformation auffordert..
    Kauna das Licht im dunkel.. nach langer Krankheit folgt neue Lebenskraft.. oder nach dem Tode die Geburt.. etwas Neuem..

  • #9

    Vesna (Montag, 02 Oktober 2023 03:59)

    Ich hoffe, dass ich das erklären kann: Im Bereich der Esoterik/Spiritualität/Energiearbeit ist ein Leitsatz: Energie folgt der Aufmerksamkeit. Energie folgt der Aufmerksamkeit bedeutet, dass all das in unserem Leben größer wird, auf das wir unsere Aufmerksamkeit lenken. Sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Und in dem Moment in dem die Rune als energetisches Tool (zum Orakeln) genutzt wird, wäre es in der Tat ungünstig wenn man den Fokus auf das Geschwür legen würde. Daher haben manche Autoren sich wie von Ihnen berichtet ausgedrückt.

    Ein Forscher und/oder Wissenschaftler hat einen ganz anderen Anspruch was die Herkunft und Bedeutung betrifft als ein spiritueller Mensch auf der Suche nach Botschaft.

    Allerdings sollte auch die „Schattenenergie“ der Rune (wie negative Bedeutungen bezeichnet werden) Erwähnung finden. Polarität ist eines der kosmischen Gesetze und besagt soviel wie: Alles kann in zwei völlig entgegengesetzte Teile getrennt werden, von denen jeder noch das Potenzial des anderen enthält. Alles auf dieser Welt besteht aus Gegensätzlichkeiten…



    Viele Grüße und ich hoffe, Man konnte mir folgen.

  • #10

    Eichenstamm (Mittwoch, 11 Oktober 2023 17:01)

    Hallo Vesna, und danke für deine Vertiefungen. Unter diesen Gesichtspunkten halte ich eine Verwendung der Runen in der Esoterik allerdings für verfehlt. Runen haben sehr klare Bedeutungen und es ist wenig hilfreich, wenn Esoteriker innen zugunsten ihrer spirituellen Arbeiten weitere Bedeutungen zufügen (erfinden). Kaunan ist historisch gesehen keine Fackel - und wird die auf diese Weise interpretiert, dann halte ich das für schlichtweg falsch. Vor allem, da in den esoterischen Büchern eigentlich niemals erwähnt wird, dass die esoterischen Runen mit den geschichtlichen nichts gemein haben (im Gegenteil wird ein Zusammenhang suggeriert). Umso irreführender, da Runen de facto für magische Arbeiten verwendet werden könnten, aber es unter diesen Umständen meines Erachtens sehr erschwert wird.

    Dennoch herzlichen Dank für deine Meinung und beste Grüße!