Gastartikel: Gedanken zur Edda, der Urgroßmutter und dem Verlust von Identität und Kulthandlungen

von Ralf

Die Edda, soweit sie denn in ihrem unverfälschtem Ursprung überliefert wurde, hat sie einen tieferen Sinn? Ist sie ein Führer zu unserem tiefsten Innern, liefert sie eine Erklärung für die Entstehung und das Zusammenspiel der Welten? Welche spirituelle Wahrheit, welche wissenschaftlichen Fakten und welche geistige Logik stellt sie dar? War die Edda ein Geschenk an die Menschen, um den Wissensdurst der menschlichen Rasse zu stillen, damit sie ihren rechtmäßigen Platz unter den Göttern einnehmen können? Wenn das die Absicht war, wo stehen wir dann heute, in einer Zeit die von Technisierung, materiellen Interessen, Entfremdung und Überheblichkeit dominiert wird? Stehen wir kurz vor einem vollständigen Kehraus unserer Wurzeln?
Selbst manch ein damaliger Skalde dürfte sich der enthaltenen Weisheit der Überlieferungen nicht bewusst gewesen sein, doch die Altvorderen haben es verstanden das Wissen in ihrer Genialität so zu verpacken, dass die Geschichten einerseits eine einfache, spannende Sprache für das einfache Volk sprechen, um sie damit interessant zu machen und eine weitere Überlieferung sicher zu stellen, andererseits das Wissen über die Welten und das Leben als Metaphern darin zu verbergen.
Doch die Hohen unter unseren Ahnen konnten nicht in die Zukunft sehen. Die Menschen mit dem dicken Buch, einer neuen und fernen Religion, kamen ins Land. In ihrem Namen wurden Tempel und Heiligtümer der alten Götter zerstört, sie schlachteten und folterten jeden zu Tode, der weiter auf seine heidnischen Riten beharrte und sich nicht unterjochen ließ. Ihre eigene unbegrenzte Gastfreundschaft und absolute Toleranz wurde den Heiden zum Verhängnis. Ehe sie Schritte unternehmen konnten, wurden sie bekehrt oder vernichtet und fielen unter die Herrschaft von Päpsten. Vielleicht gerade mal im fernen Island entkam man der methodischen Zerstörung.
Dann folgten hunderte von Jahren der Verfolgung und Unterdrückung. Bräuche, Rituale und Traditionen waren bei drakonischen Strafen verboten, wurden umbenannt, gerieten in Vergessenheit. Kein Hoher überlebte, der den nachfolgenden Generationen die Wahrheit hätte vermitteln und sie lehren können. Und da stehe ich nun in 2020, aufgewachsen in einer Gesellschaft, die im Grundgesetz den Religionsunterricht der vorherrschenden Religion festgeschrieben hat. Eine mächtige Religion mit dem Staat verbandelt bis heute, doch der feste Biss scheint abgeschwächt durch einen Paradigmenwechsel zur Leistungs-, Optimierungs- und gnadenlosen Maximumprofitgesellschaft. Ich frage mich, ob das nun nicht Freiheit, sondern den Todesstoß für die wenigen verbleibenden Anhänger der alten Sitte bedeutet. Ich erlebe Menschen, die sich Heiden nennen, die den Göttern in einer Weise begegnen, die ich blasphemisch nennen möchte, weit davon entfernt die göttliche Botschaft der heiligen Schriften entschlüsseln zu können. Wenn Met heute zum Gesöff und als Legitimation zum sinnvollen Besäufnis degradiert wird, weil die Götter ihn gern „tranken“, wenn die Überlieferung so wortwörtlich genommen wird und daraus eine blinde Adaption an den Anspruch der heutigen bequemen Freizeit und Spaßgesellschaft entsteht, wie steht es dann um eine heidnische Zukunft? Ich mag mir weitere Beispiele an dieser Stelle sparen. Ich spüre, wie unendlich klein und vergänglich ich bin und frage mich oft, ob ich so lebe, wie die Götter es für die Menschen vorgesehen haben. Wir leben den Fortschritt und ja, wir sind wahrhaftig fort geschritten, mit Siebenmeilenstiefeln. Fragt sich nur wovon? Vielleicht wird man in ferner Zukunft im Rückblick unsere heutige Zeit „als die Zeit, in der die Götter weinten“ bezeichnen.

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