Gastartikel: Die Rückkehr der Stämme 3.1

Von Askatasuna

Zur Initialphase eines neotribalistischen Kults

Teil 1

Ich habe im zweiten Artikel (Die germanische Gottheit und der moderne Mensch) die Position vertreten, dass sich die germanische Gottheit nicht einfach durch den Rückgriff auf einen Mythos oder eine Quelle erschließen lässt, weil ich strikt zwischen der Spur einer Gottheit und der unmittelbaren Begegnung mit dieser unterscheide. Die Gottheit, so lässt sich ableiten, ist zumindest für uns nicht mehr identisch mit dem Mythos, der sie einst umgab, weil dieser uns gar nicht in seinem vollen Bedeutungsspektrum verfügbar wird (aus sozialevolutionären Gründen, die ich in den bisherigen Teilen dargelegt habe). Gleichzeitig weiß ich, dass diese Gottheit grundverschieden vom monotheistischen Hochgott ist: Der abrahamitische Hochgott ist eine zuerst transzendentale Universalkraft, die Architekt und Quelle alles Existenten ist. Die germanische Gottheit hingegen entsteht selbst in einem bereits bestehenden Kosmos, der dieser letztendlich ein Rätsel bleibt.*

* Im wahrsten Sinne unnötig wird der alte Konflikt zwischen Polytheismus und Monotheismus, wenn man die Absurdität des Vorwurfs der Beigesellung begreift: Bei polytheistischen Gottheiten handelt es sich um keinen Hochgott, der als Plural schlicht unmöglich ist, sondern um personifizierte Entitäten eines metaphysischen Reichs. Sie sind, und schon das wäre gewagt, wenn nur vergleichbar mit Cherubim, Erzengeln oder besonders mächtigen Dschinn, niemals aber mit einer transzendentalen Urkraft, die alles vereint.

Sie erlangt darin Kräfte, mit denen sie über physische und metaphysische Bereiche der Welten herrschen kann, und aus genau diesem Grund boten ihr die germanischen Stämme Blut und Besitz als Opfer dar. *

Jede Gottheit zeichnet also ein bestimmbarer Charakter aus, den sie als unabhängiges Wesen immer noch selbst definieren kann. Mithilfe der Quellen und Mythen können wir die Charakterzüge konturieren, aber wir können nicht implizieren, das letzte Jahrtausend habe mit der Gottheit nichts gemacht. Auch darf nicht vergessen werden, dass wir der Gottheit nur direkt – zwischen Ritus, Kultgemeinschaft und Subjekt – begegnen werden. Wir müssen also extrem vorsichtig in der Anwendung unseres Wissens sein und gezielt Strukturen etablieren. Zur Initialphase eines Ásatrú-Kults lassen sich deshalb drei Grundpfeiler statuieren, die meines Erachtens realistisch sind:

 

 

 

 

* Vielleicht – es gibt eine Spur dafür – ist die germanische Gottheit somit eine vom Ursprung differenzierte Macht, die sich bewusst darüber werden kann, dass sie Teil eines fraktalen Mysteriums ist. Der Codex regius überliefert in Odins Runenlied:

„Zu gedeihen begann ich und begann zu denken,

Wuchs und fühlte mich wohl.

Wort aus dem Wort verlieh mir das Wort.

Werk aus dem Werk verlieh mir das Werk.“

(Hávamál, Strophe 142; übersetzt nach Simrock).

Das, was Odin dort verschachtelt schafft, ist Schöpfung, die er aus     der Schöpfung hat. Eine derartige Kosmologie stünde der Postmoderne in nichts nach.



Erstens muss eine Landkarte gezeichnet werden, die unser Wissen und vor allem Nicht-Wissen über jede Gottheit als klar begreifbares Gebiet beschreibt: Wo hat es welche Kulte wann gegeben und inwiefern stimmen diese Quellen mit den Mythen überein? Fasst das niemand für alle verständlich zusammen, sind Hopfen und Malz verloren, denn nicht alle Ásatrúar können Experten sein. Der Anspruch, jeder müsse sich sein Wissen selbst erarbeiten und fachlich bilden, ist für ein Kollektiv kein tragfähiges Konzept, weil in komplexen Sozialstrukturen immer Arbeitsteilung gilt – die Integration von Individuum und Organisation schließt sich andernfalls aus. Unser Kompass muss ein Konsens sein, der einfach aber umfassend zu vermitteln ist. Das ist keine einmalige Angelegenheit, sondern ein aufwändiger, sich aktualisierender Prozess, der niemals den blinden Fleck vergisst.
 
Zweitens werden effiziente Organisationsformen benötigt. Für konstruktiv halte ich zunächst die Bildung einer Kleingruppe, auf der nach einigen Jahren der Vorbereitung eine größere, neotribalistische Struktur aufbauen kann. Es müsste quasi ein Zwei-Phasen-Plan entwickelt werden, der eine Vertrauens- und Arbeitsgemeinschaft als Keimzelle der konkreten Realisierung des Ásatrú-Kultes vorausgehen lässt. Diese Keimzelle ist zunächst auf eine Sozialformation angewiesen, die so klein ist, dass jeder mit jedem interagieren kann, um einen hohen Gruppenzusammenhalt (die sogenannte Gruppenkohäsion) und eine effiziente Koordination gewährleisten zu können. In der Gruppensoziologie spricht man von Primärgruppen, deren Obergrenze in der Regel bei etwa 25-30 Personen liegt. Sekundärgruppen sind oft deutlich größer, individualisieren und anonymisieren ihre Mitglieder aber auch stark, deshalb ergibt es Sinn, jedes Mitglied einer neotribalistischen Sozialformation immer auch in Primärgruppen einzugliedern – den Ásatrú-Kult also in Untergruppen aufzuteilen. Sozialpsychologische und anthropologische Studien deuten darauf hin, dass die präferierte Gruppenstärke einer Sekundärgruppe – für uns also die ideale Mitgliedsstärke jedes ausgewachsenen Kults – bei etwa 150 Personen liegt. [1]

Und schließlich hat die Keimzelle drittens dafür Sorge zu tragen, dass auch die Bildung diagonaler Resonanzachsen möglich wird; dass der Gemeinschaft Artefakte und Orte zur Verfügung stehen, durch die jedes Mitglied eine möglichst starke Resonanzerfahrung machen kann. Es muss eine Ästhetisierung der Ásatrú befördert werden, die immer auch mit der Etablierung eines sozialen Netzwerks aus Unterstützern und Vertrauten einhergehen wird. Um sich kultische Räume, rituelle Kleidung und magische Gegenstände zu erschließen, braucht es soziale Ressourcen: persönliche Beziehungen zu Förstern und Jägern, Schneidern und Schmieden, Tischlern und Bauern. Einerseits lassen sich so Kleidungsstücke und persönliche Gegenstände entsprechend der Lebensgeschichte des Trägers gestalten, andererseits wird die professionelle Herstellung von Artefakten ermöglicht, die zur kollektiven Identität beiträgt – und damit zur Gruppenkohäsion (etwa einheitliche Ringe, kultische Mäntel, etc.). Ich will darauf hinaus, dass an einen Ritus eine eigene Produktionskette angeschlossen werden kann, in der die Produzenten und Konsumenten in ein natürliches, vertrauensvolles System eingebunden sind. Der Ritus, für den man höchstwahrscheinlich über mehrere Tage zusammentritt, zeichnet sich dann durch eine einmalige Versorgungsstruktur aus: Das Essen, das Wohnen, der gesamte Alltag um den Ritus herum nimmt einen außeralltäglichen Qualitätswert an. Diagonale Resonanz heißt, sich natürlich und magisch mit den Dingen zu verbinden. Die Entfremdung wird so auf einer grundlegenden Ebene bekämpft. Die Gruppenartefakte und persönlichen, rituellen Gegenstände richten sich durch dieses Versorgungsnetz am wandelnden Wissenshorizont der Gruppe, deren Sozialstruktur und sich stetig vertiefenden Mystik aus.

Es ließe sich die Initialphase eines Ásatrú-Kults also aufgliedern in eine akademische, eine neotribalistische und eine ressourcenorientierte Dimension. Für die Keimzelle ist dies zunächst ein Klärungsprozess, während dessen über Grenzen, Potentiale und Strategien der jeweiligen Dimensionen geschrieben, gesprochen und entschieden wird. Greifen die Glieder richtig ineinander, wird Innovationskraft entfaltet und die Konstruktion mystischer Begegnungsräume professionalisiert. Das so entstandene Forschungsprojekt konzentriert sich nach und nach in ein strukturiertes Gruppenideal, das es nach außen zu tragen gilt. Das allerdings, ich sagte es schon, kann Jahre dauern.


Quellen

[1] Vgl. Kessler, Thomas / Fritsche, Immo: Sozialpsychologie. Wiesbaden 2018, S. 3.

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