Gastartikel: Die Rückkehr der Stämme 1.2

Von Askatasuna

Ein unüberwindbarer Unterschied

Teil 2

Der im ersten Teil des Artikels besprochene Prozess der Ausdifferenzierung des Subjekts war ein Entwicklungsschub, der irgendwo zwischen Aufklärung und Renaissance stattfand – je nach dem, wem man hier Glauben schenken mag. Dort entstand zum ersten Mal was wir meinen, wenn heute von „Individualität“ die Rede ist. [1] Sie tritt in just dem Moment auf, wo der Einzelne dazu gezwungen wird, über sein Verhältnis zum Sozialen und zur Umwelt selber zu entscheiden, während er in die Moderne eintritt:

„So bezieht Giddens das Wort ‚Moderne’ ‚auf Arten des sozialen Lebens oder der sozialen Organisation, die in Europa etwa seit dem siebzehnten Jahrhundert zum Vorschein gekommen sind’. Die Dynamik und schließlich Radikalisierung der Moderne führt Giddens unter anderem darauf zurück, dass die Handlungen der Individuen und Gruppen von immer neuen Erkenntnissen betroffen werden. Dadurch geraten Ordnungen und Orientierungen ins Schwimmen. Giddens spricht deshalb von der ‚reflexiven Ordnung und Umordnung gesellschaftlicher Beziehungen’. Mit Blick auf die Individualität, die der Mensch in dieser permanenten Umstrukturierung seines Lebens gewinnen soll (wenn er es überhaupt noch ernsthaft will!), kann man sagen: Sie muss von jedem selbst und immer wieder neu hergestellt werden! Diese Dynamisierung von Ordnung hat auch Zygmunt Bauman im Sinn, wenn er sich ‚die Moderne als eine Zeit’ denkt, ‚da Ordnung – der Welt, des menschlichen Ursprungs, des menschlichen Selbst, und der Verbindung aller drei – reflektiert wird’.“ [2]

Spätestens im Anschluss an die Herausbildung der kleinbürgerlichen Familie fand die Aufspaltung des Sozialen statt. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Familie zur Heimat des Privaten: Was vorher eine Wirtschaftseinheit der Ständegesellschaft war (manche Sozialhistoriker sprechen gar von „ganzen Häusern“ statt von Familien, weil „Familie“ ein uns irreführender Begriff des 18. Jahrhunderts ist [3]), wird nun Zentrum eines emotionalen Eheideals. Die Familie als „geistige Gemeinschaft“ [4] entdeckt die Kindheit, die Erziehungsstile lockern sich. Noch wichtiger für die Differenzierung von Lebenswelt und System aber ist, dass sich der Arbeitsplatz nun endgültig vom Wohnort trennt. Die gesellschaftliche Sphäre wird aufgesprengt – man könnte sagen, das Soziale wird privatisiert und zum Individuum gedrängt:

 

„Der Soziologe Theodor Geiger (1891–1952) deutet den Strukturwandel der Familie auf einer allgemeineren Ebene als die Aufspaltung des gesellschaftlichen Lebens in eine unpersönliche öffentliche Sphäre mit Zügen eines Massendaseins und in eine intime individualisierte Privatsphäre.“
Geißler, S. 26

 

Der individualisierte Mensch steht mit seiner fragmentierten Sozialsphäre in einer völlig anderen Welt: Seit der Aufklärung existieren wir in einem Universum, das so unabhängig

von uns ist, dass uns all die Atome und Sterne nicht mehr viel zu sagen haben.* Aus den Ständen wurden Klassen, aus der heiligen Ordnung der Kirche die Industriegesellschaft der Gegenwart. Diese Industriegesellschaft ist nicht mit ihrer Umwelt verschmolzen, sondern von dieser getrennt, scheinbar sogar regelrecht verfeindet mit ihr. Wir alle wissen das.
Nicht nur unsere Subjektivität, unsere Familien und unsere Gesellschaftsformen haben sich gewandelt, sondern auch unser Verständnis der Welt an sich. Wir werden eine Gemeinschaft nie wieder so spüren, wie es die Germanen taten, und auch keinen Ort in der Natur, keine Gottheit – nicht einmal einen Gedankengang. Selbst, wenn wir alles wieder exakt so rekonstruieren, wie

*Die Moderne reduziert das Subjektive auf das Objektive: Der jahrtausendealte Disput zwischen Materialisten und Idealisten wird zugunsten eines wissenschaftlichen Materialismus vom akademischen Diskurs abgesprengt. Doch es zeichnet sich eine Kehrtwende ab: Von Postmodernisten wird das in der Moderne vermeintlich als objektiv erschlossene Wissen umfassend dekonstruiert. Entscheidend ist nicht mehr, was als wahr gilt, sondern die Rahmenbedingung, aus der heraus die vermeintliche Wahrheit erfasst worden ist. Es kommt auf den Kontext an, der wiederum einen größeren Kontext hat – und immer so weiter. Das aber kommt m. E. einer philosophischen Vernichtung der uns umgebenden, objektiven Wirklichkeit gleich: Das Objektive wird vollständig auf das Subjektive reduziert. In Moderne und Postmoderne sind in meinen Augen beide Subjekt-Objekt-Reduktionen fatale Strategien.


es war: Wir sind nicht indifferent. Wir reden andauernd von uns selbst, unserer Gesellschaft und der Natur, und bemerken dabei nicht, dass uns bereits diese Differenzierung vom Germanen trennt. Wir Ásatrúar sind viel zu abstrakt, weil wir moderne Menschen sind.
Ich glaube nicht, dass die damalige Zeit eine bessere war. Ich weiß, dass diese Idee verlockend klingt: Wir sehnen uns nach einem schlichteren Leben in der Natur, nach sozialer Geborgenheit und dem mythischen Gefühl, dass die Spur dieser Epoche in uns hinterlassen hat. Viele Neuheiden neigen dazu, sie zu favorisieren, weil es dort zu all den Trennungen noch gar nicht gekommen war.
Aber es ist unwahrscheinlich, dass unsere Träume eine Ahnung von den erlebten Lebenswirklichkeiten damaliger Heiden haben. Es gab Schattenseiten – die gab es definitiv. Mehr, als wir uns denken können, denken wollen. Unsere Ahnen haben sich nicht Erbfolge um Erbfolge aus ihrem Zeitalter gekämpft, damit wir hier stehen, jammern und träumen – das missachtet ihre Entscheidungen und ihren Fortschritt; es ignoriert, was die Völker im Anschluss geschaffen haben. Solche Fantasien reduzieren ihre Lebenswirklichkeit auf das, was uns am meisten fehlt.
Stellen wir uns ein Kind vor, so jung, dass seine Mutter es noch stillen muss: Es ist verwoben mit ihr und es denkt sich nicht als sich selbst – es ist. Es wird wachsen, sich trennen, rebellieren und einsam sein. Aber durch diese Entwicklung wird aus dem Kind, dem seine Welt selbstverständlich ist, eine Persönlichkeit, die ihre eigene schafft. Sie wird selbstbewusst, unabhängig und reflektiert. Und eines Tages wird sie ihrer Mutter mit einer neuen, viel bewussteren, ja vielleicht sogar tieferen, weil nicht nur gefühlten, sondern auch verstandenen Liebe gegenüberstehen. Das ist die Architektur Midgards. Was ist daran falsch?

Quellen

[1] Vgl. Abelds, Heinz: Identität. 3. Auflage, Wiesbaden 2017, S. 15f.
[2] Ebd.; Abelds bezieht sich hier auf den britischen Soziologen Anthony Gibbens.
[3] Vgl. Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands. 7. Auflage, Wiesbaden 2014, S. 23.
[4] Ebd. S. 24.

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