Die mythologische Herkunft der Runen

Die Schrift eines Volkes auf eine übernatürliche Herkunft zu beziehen, ist bei den Germanen kein Einzelfall: Auch Ägypter, Griechen und Chinesen verbreiteten Geschichten darüber, wie ein Gott die Schrift erfunden und geschaffen hätte. Bei den Germanen ist dieser Gott Odin.
In der germanischen Kultur ist dieser Gott Odin, hat im Gegensatz zu den drei genannten Kulturen die Runen allerdings nicht geschaffen. Sie existierten bereits, waren bereits da, während er sie lediglich durch ein Selbstopfer erfuhr und vollständig begriff. Dieser Mythos muss bei den Germanen weit verbreitet gewesen sein, denn wir finden Hinweise darauf nicht erst im berühmten Hávamál aus dem mittelalterlichen Island, sondern bereits auf einigen Runenfunden der älteren Periode.

Das Hávamál

Im Hávamál wird Odin als der Gott bezeichnet, der die Runen aufgenommen hat. Das Lied spricht davon, wie er sich an die Weltenesche Yggdrasil hängt, für ein Selbstopfer mit dem Speer durchbohrt und nach neun Nächten die Runenweisheiten empfängt, die im Folgenden, im sogenannten Rúnatal, einem weiteren Abschnitt des Hávamáls, beschrieben werden. Der Aspekt des Selbstopfers ist dabei der Schlüssel zu Odins Weisheit – er bindet sich an einen Baum, wie es auch für typische Odinsopfer belegbar ist: Odin wird der hängende Gott, »Hangatýr«, genannt.
Die Runen existierten laut Mythos also möglicherweise schon vor Odin, er ist nicht ihr Schöpfer, sondern vielmehr derjenige, der sie am besten von allen anderen beherrscht, der sie – vielleicht als einziger – in ihrer Vollkommenheit begriffen hat.

 

Ich weiß, dass ich hing
am windigen Baum
neun Nächte lang,
mit dem Ger verwundet,
geweiht dem Odin,
ich selbst mir selbst,
an jenem Baum,
da jedem fremd,
aus welcher Wurzel er wächst.
(Übersetzt nach Felix Genzmer)

Es ist nicht ganz klar, inwiefern die Runen schon vorher bestanden, ob sie als eine Art Energie der Welt verstanden werden, die schließlich von Odin gebündelt und so erst manifestiert wird, etwa wie es das Feuer schon gab, ehe die Menschen es zu entfachen wussten. Oder gab es einen Runenmeister vor Odin?
Bezeichnend ist, dass Odin sich nicht einer höheren Macht opfert, sondern sich selbst an sich selbst. Das kann entweder auf die Bedeutung des Selbstopfers an sich hindeuten, wie sich vielleicht jeder von uns sich selbst opfern könnte, oder aber, und dahin geht meine Theorie, Odin ist als göttliche Macht derart umfassend, dass er selbst vor sich und seiner Größe niederkniet. Im Unterbewusstsein ist er bereits Runenmeister, nicht aber im Bewusstsein, und indem er die Entscheidung trifft, dieser Macht, die sich in seinem Unterbewusstsein bündelt, zu opfern, gelangt ein Teil seines Unterbewusstseins an sein Bewusstsein. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum Odins Namen in allen möglichen Übersetzungen und Ableitungen immer von unbewussten, aber höchst mächtigen Zustände abgeleitet wird: Extase, Wut, Raserei, Inspiration. In diesen ursprünglichen Geisteszuständen zeigt sich Odins wahre Macht.

Die Runensteine

Zwei Runensteine sprechen in ihren Inschriften von den Runen als von den Ratern (also den Göttern) entstammend. Dabei handelt es sich um die Steine von Noleby und von Sparlösa.

Der Stein von Noleby aus Westschweden stammt aus dem Ende des 6. Jahrhunderts.

rūnō fāhi raginaku(n)dō
»Eine Rune male ich, eine von den Ratern (den göttlichen Mächten) stammende.«
(Übersetzt nach Klaus Düwel)

 

Dieser Teil der Inschrift wird durchgehend ähnlich übersetzt, der zweite Teil dagegen (hier nicht abgebildet) variiert stark und schwankt je nach Übersetzung zwischen Liebeszauber oder Totenbannung ans Grab. Heinz Klingenberg glaubt im letzten Teil der Inschrift das Wort ōþan zu erkennen, »Odin«.

 

Der Stein von Sparlösa dagegen stammt aus der Zeit um 800, ebenfalls aus Schweden, Västergötland. Die Inschrift des Steines endet erneut mit einer Bezugnahme auf die Herkunft der Runen:

 

Ok rað runaʀ þaʀ ræginkundu þar, svað Alrikʀ lubu faði
»Und rate (deute) die Runen da, die von den Ratern (Göttern) stammenden, die Alrik lubu malte.«
(Übersetzt nach Klaus Düwel)

 

Auf dem Stein von Stentoften dagegen ist die Rede von »Glanzrunen«, womit Düwel zufolge der Himmelsglanz der Runen gemeint sei und erneut auf die Herkunft von den Göttern anspiele.

Desweiteren findet sich auf einem menschlichen Schädelknochen aus der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, gefunden in Ribe in Jütland (Dänemark), die Runeninschrift uþin, also Odin.

Brakteaten

Bei Brakteaten handelt es sich um goldene Metallplättchen, auf die Bilder und mitunter auch Runen gepresst wurden. Den Großteil davon fand man in Gräbern und sie wurden wohl in erster Linie von Frauen getragen.
Auf diesen Brakteaten nimmt Odin eine herausstechende Rolle ein. Häufig stellt die gepresste Figur auf diesen Goldplättchen Odin dar, mitunter in seiner Funktion als Heiler eines Fohlens, wie es auch im Zweiten Merseburger Zauberspruch berichtet wird. Düwel legt nahe, dass sich die Runeninschriften auf den Brakteaten in diesem Falle wahrscheinlich auf den Gott beziehen, da sie zumeist in der Ich-Form geschrieben sind.
Dazu gehören Aussagen wie beispielsweise »Runen schreibe ich« (Sievern-A), »Ich, der Glanzäugige, weihe die Runen« (Nebenstedt I) und »H. Heiße ich, der Gefährliches Wissende, ich gebe Glück (oder Schutz)« (Seeland II).

Brakteat Nebenstedt I
Brakteat Nebenstedt I
Brakteat Sievern-A
Brakteat Sievern-A
Brakteat Seeland II
Brakteat Seeland II

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