Die formale Herleitung der Runen

In seinem Handbuch der Runenkunde spricht sich Helmut Arntz für eine Herkunft der Runen aus Oberitalien aus. Er vergleicht die dort gefunden Alphabete mit den einzelnen Runen und findet in mühsamer Kleinarbeit für immerhin 18 der 24 Runen eine norditalische Entsprechung. Das ist mehr als man für das lateinische, geschweige denn das griechische Alphabet finden konnte. Neben der großen Ähnlichkeit der Zeichen spricht auch eine geographische Nähe von den Germanen zu den norditalischen Völkern für eine Übernahme. Für den einleitenden Artikel siehe »Die norditalische These«. Im Folgenden werden die Runen einzeln hergeleitet, als Grundlage diente Arntz.

Die einzelnen Runen

Die Form von Fehu findet sich nicht in den norditalischen Alphabeten, der Laut [f] wurde im Lateinischen und in Este zuerst mit vh transkribiert und schließlich zu F (aus dem Lateinischen übernommen) vereinfacht. Unklar ist, ob ᚠ eine runische Variante dieses lateinischen F ist oder ob ᚠ so bereits in den alpinen Alphabeten vorkam und in die Runenschrift übernommen wurde.

Λ

Λ findet sich in der Valle di Cadore, in Este, im venetischen Alphabet und in Lugano. ᚢ als runische Nebenform findet sich in Lugano und Sondrio, erklärt sich aber aus dem Streben nach einem senkrechten Hauptstab. Die ältere Form war daher wohl Λ.

Es ist nicht ganz klar, wie man auf ᚦ kommt, verschiedene Theorien führen verschiedene Möglichkeiten an. So könnte es aus der Form D entstanden sein, was allerdings zu problematischen Überschneidungen des Lautes [d] oder der Runenform von R (anfangs D) führt. Eine weitere Theorie besagt, dass es von dem griechischen ϴ stammt.
Arntz führt die Rune auf ein Zeichen mit Hauptstab und dreifachem rechtsseitigem Haken zurück; ein Schriftzeichen, das in Magrè und Bozen belegt ist und dort für den Lautwert von þ stand.

Die runische Form des A findet sich sehr häufig im Norditalischen, am häufigsten in der Gegend um den Lago Maggiore und Comer See.

Die ersten R-Runen sind durch einen deutlichen Abstand zwischen dem Hauptstab und den Beistäben gekennzeichnet — eine Form, die man aus lateinischen Inschriften nur aus dem 2. Jahrhundert v. u. Ztr. kennt. Unverständlich ist allerdings, wie man von solch einem Buchstaben die zahlreichen r-Runen erklären soll, deren Beistab überhaupt nicht eingekerbt ist und welche damit den u-Runen zum Verwechseln ähnlich sehen (ᚢ).

 

»Es scheint uns ausgeschlossen, dass die Germanen eine alte r-Rune ᚱ so umgestaltet haben, dass sie mit der u-Rune zusammenfallen musste; das natürliche Bestreben geht vielmehr dahin, ähnliche Zeichen deutlich zu unterscheiden. Die Formen ohne Einbuchtung in der Mitte setzen vielmehr nordit. D [spiegelverkehrt] r  voraus.«
Arntz, S. 41-42

 

Diese Form ist an den Seen von Lugano und Como belegt, außerdem Varianten in Este, Vira-Gambarogna usw.
Die Zeit der Übernahme der Schrift muss zu einer Zeit stattgefunden haben, als das lateinische R bereits teilweise (nicht vollständig) in die etruskischen Schriften gedrungen war, also zu Beginn des 2. Jahrhunderts v. u. Ztr., nicht am Ende.

Auffallend am runischen ᚲ ist seine geringe Buchstabengröße. Eine nachträgliche Verkleinerung ergibt kaum Sinn, schlüssiger ist, dass sich das Zeichen aus einem anderen Buchstaben entwickelt hat, etwa K. Diese Form findet sich in den Alphabeten von Lugano, Bozen, Verona, Magrè und Este. Bei Bassano findet sich sogar ᚲ, allerdings in voller Buchstabenhöhe. Ein möglicher Grund für das Verschwinden des Hauptstabes in der Runenschrift könnte die häufige Verwendung von Binderunen sein (insbesondere für »ek«), wo der Hauptstab der ersten Rune einfach für ᚲ übernommen wurde.

Norditalisches Alphabet
Norditalisches Alphabet
Ek-Binderunen
Ek-Binderunen

Ebenso wenig wie b und d kommt auch g in den norditalischen Alphabeten nicht vor, eine Herleitung ist daher nicht möglich. Es gab Überlegungen ob ᚷ durch eine Verdopplung und Spiegelung von ᚲ entstand, Arntz lehnt das allerdings ab, da ansonsten nicht belegt ist, dass »die Germanen phonetischen Überlegungen angestellt hätten«. Marstrander erwägt, ob ᚷ aus dem kelto-lateinischen Alphabet entstammt, wo es einen gutturalen Aspiraten wiedergibt. Dieser wird bei den Runen durch ᚺ wiedergegeben, somit wäre ᚷ für einen anderen Laut frei geworden.

Lässt sich nicht ohne Weiteres herleiten. Im Norditalischen wurde v mit ᚨ umschrieben. In Este steht ᚨ v dem Buchstaben ᚹ a gegenüber (leicht stilisiert), die Lautwerte sind also genau umgekehrt jenen der Runenschrift. Wie v in Sondrio und Lugano, den wesentlichen Vorlagen, aussah, ist ungewiss.

ᚻ und ᚺ (sowie mit in die andere Richtung gedrehten Beistäben) sind Varianten, erstere findet sich bei deutschen Stämmen und in England, letztere bei den Goten und Skandinaviern. Sofern ᚺ nicht mit einer anderen Rune zusammenfiel, ergibt es keinen Sinn, dass ᚺ auf ᚻ erweitert wurde – es gibt also keinen Anhaltspunkt dafür, warum sich aus lateinisch H ᚻ entwickeln sollte. Glaubhafter ist dagegen die Verbindung zum norditalischen dreistäbigen H (beispielsweise von Bozen), welches in der Runenschrift auf zwei bzw. einen Stab vereinfacht wurde.

Die runische Form ᚾ lässt sich vom lateinischen N nur schwer herleiten, während für die norditalischen Schriften die Entwicklung hin zu den Runen geradezu nachgewiesen werden kann. Die gewöhnliche Form für jene Alphabete trägt den Haken am oberen Ende des Hauptstabes. Ein Fund aus der Val Camonica (zwischen Brescia und Bergamo) hat allerdings die unmittelbare Vorlage für runisch ᚾ geliefert. In diesem ist der Haken in die Mitte des Hauptstabes gerückt.

ᛁ ist so in allen norditalischen Alphabeten anzutreffen.

Auch ᛃ kann aus dem italischen Alphabeten nicht erschlossen werden, die lautlichen Eigenschaften legen das allerdings schon von sich aus nahe, da es [j] in Oberitalien nicht gab. Es gibt einige Theorien zu einer Herleitung über ein palatales (lateinisches) g, diese können allerdings nicht erwiesen werden.

ᛇ kann aus einer italischen Vorlage nicht erschlossen werden. Der Lautwert der Rune war wohl ursprünglich [ei], entwickelte sich schließlich aber nicht weiter, obgleich der Laut ausstarb, sodass die Rune zwar erhalten blieb, aber nicht mehr verwendet wurde. Ein gotischer Ursprung der Runen könnte angenommen werden, weil sich dort der Lautwert der Rune besser auflöst.

Die Rune ᛈ ist in allen Belangen äußerst schwierig, so auch in der graphischen Herleitung. In den norditalischen Schriften finden sich ᚹ und schließlich ᛚ, welches bei den Runen jedoch jeweils mit anderen Zeichen (w-Rune und l-Rune) zusammengefallen wäre. Durch Umdrehen von ᛚ sollte dem entgegengewirkt werden. In Charnay ist schließlich ein W-ähnliches Zeichen belegt, also eine Verdoppelung des gedrehten ᛚ. Eine solche Umkehr von Schriftzeichen ist viele Male belegt und daher nicht erstaunlich. Das W wurde schließlich in der Inschrift von Breza verdoppelt, ᛈ wiederum ist eine Vereinfachung davon.

Das Zeichen ᛉ ist in den norditalischen Schriften in Varianten oder gleich vielfach vertreten, so etwa in Charnay (mit Krähenfuß unten und oben), in Sondrio (Stäbe zeigen nach unten und sind verdoppelt), in der Val Camonica (Stäbe zeigen nach oben und sind verdoppelt). Auch die noch weiter verbreiteten Grundformen mit waagrechten Stäben hätten laut »runischen« Regeln zu ᛉ werden müssen, während sich lateinisch Z zum spiegelverkehrten ᛇ gewandelt hätte.

Bei den Runen gibt es sehr viele Formen für S und tatsächlich sind die norditalischen Alphabete die einzigen, welche dieselbe Vielfalt und exakt dieselben Formen teilen. Im Griechischen kommt eine solche ᛊ-Form nur bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. vor, im Rom der Kaiserzeit gibt es nur S.

Da für die norditalischen Alphabete t meist als X überliefert ist, hielt diese man lange Zeit als Vorläufer des runischen ᛏ für unwahrscheinlich. Schließlich fand sich ᛏ aber auf einer Schnabelkanne von Castaneda (Graubünden), auf Felsinschriften der Würmlacher Wiesen sowie in rätischen Inschriften von Sanzeno nell’Anaunia. Durch die Inschriften von Novilara lässt sich die Entwicklung von X zu ᛏ hin sogar deutlich nachverfolgen.
Wie auch bei anderen Runen wurde bei X der Hauptstab senkrecht aufgerichtet, sodass ᚾ entstand. Der Beistab wanderte schließlich nach oben und konnte dort entweder schräg, gerade oder nach beiden Seiten abgebrochen auf den Hauptstab aufgesetzt werden.

In den norditalischen Schriften wurden b, d und g mit p, t und k umschrieben. Nichtsdestotrotz ist das Zeichen für ᛒ belegt (Sondrio), wobei nicht ganz sicher ist, ob dieses aus dem Lateinischen übernommen wurde oder noch aus dem frühesten etruskischen Alphabet stammt. Letzteres hält Arntz für wahrscheinlicher, da sonst das Vorhandensein von ᛒ in den ostitalischen Schriften nicht erklärt werden könnte. Whatmouch meint, dass, indem die stimmhaften Verschlusslaute überflüssig wurden, sich D zum norditalischen R entwickelte. Auch in diesem Fall müssten b, d und g also bereits in den norditalischen Varianten vorhanden gewesen sein und keine lateinischen Importe sein.
So oder so, in jedem Fall ist ᛒ für Norditalien belegt.

Das ᛖ entstammt wahrscheinlich einem gedrehten E, zumindest um 45° wird es schon bei den norditalischen Alphabeten gedreht (Lugano), in den etruskischen findet man gar das ganz gekippte E.

Die Form ᛗ findet sich ebenso in Giubiasco, es gibt außerdem gedrehte Varianten W in Sondrio und im Ostitalischen. Varianten in Magrè und bei Ornavasso zeigen ᛗ mit nur einem Hauptstab.

ᛚ findet sich im Venetischen, in Este, Gurina, Vicenza, Valle di Cadore und andernorts.

Die Form von ᛜ lässt sich schwer von anderen Alphabeten herleiten — solch ein Laut war meist nicht vonnöten. Im Griechischen wurde der Laut ŋ durch ein doppeltes g »γγ« wiedergegeben, aber es ist nicht gesichert, ob ᛜ ebenfalls aus zwei g-Runen besteht »ᚷᚷ«, welche dann aufgerichtet die Form ᛝ annahmen. Die älteste Form von ᛜ ist wohl auf dem Brakteat von Vadstena (440-560) zu finden. Es ist davon auszugehen, dass die Germanen ᛜ selbst erschufen.

Da [d] wie auch [b] und [g] in den norditalischen Alphabeten nicht vorhanden war, ist eine Übernahme daraus vonseiten der Germanen ausgeschlossen. Tatsächlich findet sich das Zeichen ᛞ aber in den Schriften von Sondrio, Lugano und Este, wenn auch zur Bezeichnung eines anderen Lautes (š). Eine Beziehung zu ᚦ ist wahrscheinlich, aber nicht sicher.

ᛟ hat in Norditalien allgemein die Form ᛜ, wird in Lugano und der östlichen Lombardei aber als ᛟ überliefert.


Quellen

Arntz: Arntz, Helmut, Handbuch der Runenkunde, Edition Lempertz, Königswinter 2007 (1944).
Düwel: Düwel, Klaus, Runenkunde, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart Weimar 2008.
Runenprojekt Kiel: Webseite des Runenprojekts der Uni Kiel [http://www.runenprojekt.uni-kiel.de/].

Kommentar schreiben

Kommentare: 0