Die Vǫluspá - Ein Überblick

Allgemein

Die Vǫluspá (ausgesprochen "Völüspau" oder "Völuspaa") steht als erstes Lied in der Lieder-Edda. Ihr Name bedeutet übersetzt so viel wie "die Weissagung der Seherin" (von völva = "Seherin" und spá = "Weissagung"). Sie gilt als das berühmteste Gedicht der Lieder-Edda und das wichtigste der mittelalterlichen skandinavischen Poesie.

 

Die Vǫluspá ist in zwei Handschriften überliefert, einmal im Codex Regius mit 62 Strophen, einmal im Hauksbók mit 57 Strophen, wobei in letzterem vier Strophen zu finden sind, die im CR nicht existieren. Diese wurden in die Fassung des CR integriert, sodass die heute übliche Form der Vǫluspá 66 Strophen umfasst.

Außerdem zitiert Snorri in seiner Prosa Edda einige Strophen als Quelle und belegt mit mindestens zehn Nennungen den Namen der Vǫluspá .

Alter und Datierung

Obwohl der CR als älteste Handschrift, welche die Vǫluspá überliefert, aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts stammt, ist sich die Forschung darin einig, dass das Lied selbst um einiges älter ist. Wie alt genau, darüber gehen die Meinungen auseinander und schwanken zwischen dem Beginn des 10. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Indem das Lied in der Þorfinnsdrápa von Arnórr Járlaskáld zitiert wird, welche wiederum im Jahr 1065 entstand, kann eine spätere Entstehung der Vǫluspá mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Dennoch wird davon ausgegangen, dass die Vǫluspá Einflüsse aus viel früherer Zeit, gar bis ins indogermanische Zeitalter zurück enthält.

Perspektive der Seherin

Die Vǫluspá zählt zu den Wissensgedichten der Lieder-Edda (wie etwa auch das Vaþrúðnismál oder das Grímnismál), also jenen Liedern, bei denen sehr viel an mythologischem Wissen überliefert wird. In der Form entspricht das Lied dem Monolog einer Seherin, die in den Strophen starke Momentaufnahmen beschreibt. Dabei verweilt sie nur kurz bei den jeweiligen Punkten und spricht viele mythologische Sagen nur oberflächlich an, geht daher also bereits von einem breiten Wissen der Zuhörerschaft aus.

 

Die Rolle der Seherin erfährt man in den ersten beiden Strophen, in denen sie um Gehör bittet und von ihrem Geburtsort erzählt. In Strophe 28 erzählt sie außerdem, dass sie von Odin aufgesucht wurde und dieser sie um einen Blick in die Zukunft bat, den er mit Schmuck bezahlte. Ihre Fähigkeiten beweist die Seherin, indem sie Odin die Frage nach dem Aufenthaltsort seines geopferten Auges beantworten kann.

 

Über die Seherin erfahren wir im Laufe des Gedichts, dass sie uralt zu sein scheint. Sie wuchs bei den Riesen auf, ist also selbst ebenfalls von riesischer Abstammung. Außerdem ist sie der Zauberkunde mächtig.

Formale Aspekte

Die Vǫluspá ist im Versmaß Fornyrðislag ("alte Worte") verfasst. Die Strophen besitzen eine 2-Teile-Struktur, also zweimal vier zusammengehörige Verse (= zwei helmingar), sodass eine achtzeilige Strophe entsteht. Diese helmingar bilden jeweils einen Hauptsatz (+ zugehörige Nebensätze), sodass eine Strophe jeweils aus zwei Hauptsätzen besteht.

Die Verse sind sogenannte Langzeilen mit zwei Hebungen. An- und Abvers staben (alliterieren). Die Stäbe in der folgenden ersten Strophe der Vǫluspá sind farblich markiert.

 

Hljóðs bið ek allar

helgar kindir,

meiri og minni

mögu Heimdallar;

viltu að eg, Valföður,

vel fyr telja

forn spjöll fira,

þau er fremst um man.

 

Ein Zusatz, der in der Lieder-Edda sonst nicht vorhanden ist, ist die Funktion eines stefs. Ein stef ist eine Art Refrain, der meist unregelmäßig zwischen den Strophen verteilt wird und gewöhnlich in der Skaldik vorkommt. Hierbei wird er besonders für anspruchsvolle Lieder eingesetzt.

In der Vǫluspá kommen gleich drei unterschiedliche stefir vor (zur näheren Bedeutung und Interpretation siehe den Artikel "Die Vǫluspá - Die drei stefir"):

 

1.

Þá gengu regin öll. 

á rökstóla,

ginnheilög goð,

og um það gættust

Zum Richtstuhl gingen

die Rater alle,

heilge Götter,

und hielten Rat,

 


2.

Vituð ér enn, eða hvað?

 

Wisst ihr, was das bedeutet? 

 


3.

Geyr Garmur mjög

fyr Gnipahelli,

festur mun slitna

en freki renna;

fjöld veit hún fræða,

fram sé eg lengra

um ragnarök

römm sigtíva.

Gellend heult Garm

vor Gnipahellir:

es reißt die Fessel,

es rennt der Wolf.

Vieles weiß ich,

Fernes schau ich:

der Rater Schicksal,

der Schlachtgötter Sturz.

 


Erstes und drittes Beispiel übersetzt nach Genzmer, zweites Beispiel nach Simrock.

Inhalt

Beim Inhalt der Vǫluspá handelt es sich um eine relativ knappe Abhandlung vieler verschiedener Mythen in Hinblick auf ihre chronologische Reihenfolge. Im Großen und Ganzen kann sie in Entstehung der Welt (Vergangenheit), Bestehen der Welt (Gegenwart) sowie Untergang der Welt, also Ragnarök (Zukunft) zusammengefasst werden. Angesprochen werden grob zusammengefasst:

  • Entstehung der Welt
  • Erschaffung von Zwergen und Menschen
  • Vanenkrieg
  • Tod Balders und Lokis Bestrafung
  • Ragnarök
  • Entstehung einer neuen Welt

Einen besonderen Teil der Diskussionen rund um die Vǫluspá nimmt das sogenannte Dvergatal ein, also die Strophen 11 bis 16. In diesen werden lediglich Dutzende Zwergennamen aufgezählt und weder inhaltlich noch rhythmisch scheinen diese zum Rest des Liedes zu passen. Dennoch ist das Dvergatal in allen Versionen der Vǫluspá enthalten, sodass sich die Forschung bis heute nicht einig ist, ob dieser Teil nun ursprünglicher Bestandteil des Gesamtliedes ist oder erst im Nachhinein eingefügt wurde.

Christliche Einflüsse

Auch das Thema christliche Einflüsse in der Vǫluspá ist stark umstritten. Dass es Einflüsse gibt, ist ziemlich gesichert, unklar ist dagegen, wo genau und in welchem Ausmaß. Beispielsweise soll die Darstellung von Ragnarök stark jener gleichen, die im Christentum beim Jüngsten Gericht beschrieben wird. Gleichzeitig warnen manche Forscher auch vor einem allzu starken Abhängigkeitsgedanken, da in der Vǫluspá ebenso indisch-iranisch-indoeuropäische Einflüsse zu sehen seien (laut Rydberg und Ström) beziehungsweise persisch-manichäische (laut Reitzenstein und Schröder). Im Laufe der Zeit wurde sowohl versucht, das Lied einzig heidnisch als auch einzig christlich zu deuten, es empfiehlt sich jedoch, es aus beiderlei Blickpunkt zu betrachten und das Lied als Kunstwerk seiner Zeit zu sehen und nicht lediglich auf das eine oder das andere zu reduzieren.

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