Das altnorwegische Runengedicht

Abschrift nach Árni Magnússon

f vældr frenda roge.

fỏdezt ulfver  i skoghe

 

 

u er af illu iarne.

oft lǫyper ræin a hiarne

 

 

þ vælldr kvenna k…

kater værdr faar af illu

 

o er læid flestra færda.

en skalper er sværda

 

 

r kvæda rossom uæsta.

reghin s… sverdet baðzsta

 

k er bæggja barna.

bol gỏrvir naan folfvan

 

h er kalldazstar korna.

Krister skom [skop] hæimen forna

 

n gerir næppa koste.

nỏktan kælr i froste

 

i kollum bræ [brú] bræida.

blindan þarf at læida

 

 

a er gufna goðe.

get ek at orr var froðe

 

s er landa liome

luti ek helgum dome

 

t er æinendur asa

opt værðr smidur at blasa

 

b er lauf grỏnzster lima.

loke bar flærdar tima

 

m er molldar auki

mykil er græip a hauki

 

l er þat er fællr or fialle

foss en gull ero nosser

 

 

y er veter grỏnster vida.

vant er þar er brenr at sviða

Übersetzung nach Alessia Bauer

(Reichtum) bewirkt den Streit der Verwandten,

der Wolf ernährt sich im Wald.

 

(Schlacke/Schmiedeabfall) kommt von schlechtem Eisen,

oft läuft das Rentier auf Harschschnee.

 

(Riese) verursacht der Frauen Qual,

fröhlich werden wenige vom Übel.

 

(Flussmündung) ist der Weg der meisten Fahrten,

die Scheide ist [derjenige] der Schwerter.

 

(Reiten) ist das Schlimmste für die Pferde,

Regin [schmiedete] das beste Schwert.

 

(Geschwür) ist eine Plage für die Kinder,

Unglück macht den Leichnam aschfahl.

 

(Hagel) ist das kälteste aller Körner,

Christus erschuf die alte Welt.

 

(Not) verursacht bedrängten Zustand,

ein Nackter friert im Frost.

 

(Eis) nennen wir den breiten Gletscher [Brücke],

ein Blinder bedarf der Führung.

 

(Gutes Jahr) ist ein Segen für die Menschen,

ich glaube, Frodi war freigebig.

 

(Sonne) ist das Licht der Länder,

ich unterwerfe mich dem heiligen Urteil.

 

(Týr) ist der einhändige Ase,

oft muss ein Schmied blasen.

 

(Birkenzweig) ist der blattgrünste Ast,

Loki brachte trügerische Zeiten.

 

(Mensch) ist des Staubes Zuwachs,

groß ist die Klaue des Habichts.

 

(Wasserfall) ist das [Wasser], das vom Berg niederstürzt,

aber Kleinode sind Gold.

 

(Eibe) ist der grünste Baum des Winters,

gewöhnlich sengt es, wo es brennt.


Deutung

Beim altnorwegischen Runengedicht scheint es sich um Merkverse zu handeln. Im Anvers finden sich zwei Stäbe, auf der ersten Silbe des Abverses ein weiterer. Zusätzlich sind die Zeilen durch Endreim verbunden. Ausnahmen dieses Reimschemas sind die k- und l-Strophen, die eventuell darauf schließen lassen, dass das Runengedicht zur Zeit der mündlichen Überlieferung im dróttkvætt verfasst wurde.

Jede Strophe bildet eine Einheit, wobei der Zusammenhang zwischen den beiden Versen erstmal unklar und rätselhaft bleibt; so rätselhaft sogar, dass bis zum Ende des 20. Jahrhunderts davon ausgegangen wurde, dass schlicht keine Verbindung besteht und die zweite Zeile nur des Reimes wegen hinzugefügt wurde. Inzwischen ist man der Meinung, der Zusammenhang sei metaphorisch und durch Assoziationen vorhanden (siehe unten). Diese Anspielungen beziehen sich meistens auf Mythen und Heldensagen.

Das Runengedicht ist in einem christlichen Kontext entstanden. Dennoch verarbeitet es sowohl christliches als auch heidnisches Gedankengut. Im Gegensatz zum angelsächsischen Runengedicht scheut es also die Berührung mit heidnischen Themen keineswegs und kann daher zurecht als synkretistisches Werk bezeichnet werden.

 

Das Runengedicht bezieht sich auf das jüngere Futhark. Obwohl keine direkte Unterteilung in Aettir ersichtlich ist, spricht sich Alessia Bauer für eine inhaltliche Aufteilung aus. Ihr zufolge behandeln das erste und das dritte Aett heidnisch-negative Konzepte, das zweite Aett dagegen wirkt positiv-christlich.

Da die Mythen, die in dem Gedicht vorkommen, lediglich angedeutet werden, muss davon ausgegangen werden, dass den Zuhörern (der mündlichen Tradition) und den Lesern (der schriftlichen Tradition) die Sagen wohlbekannt waren.

 

Obige Übersetzung von Alessia Bauer bezieht sich auf Jón Eggertsson unter Einbezug aller Quellen. Da ich als Primärquelle Árni Magnússon angegeben habe, waren an manchen Stellen minimale Eingriffe in die Übersetzung notwendig.

f-Strophe, "fe"

f vældr frenda roge.

fỏdezt ulfver  i skoghe

 

(Reichtum) bewirkt den Streit der Verwandten,

der Wolf ernährt sich im Wald.

 


Im Gegensatz zum angelsächsischen Runengedicht klingt der Reichtum im altnorwegischen Gedicht negativ an. Es scheint Gold gemeint zu sein - und Gold, das Streit verursacht, ist in den Heldenmythen häufig vorhanden. An erster Stelle steht wohl das Nibelungengold und die vernichtende Geschichte seiner Besitzer. Gold wird in Kenningar durchaus als "Streit der Nibelungen" bezeichnet. Eine weitere Assoziation ist der Streit zwischen Asen und Vanen aufgrund von Gullveig, deren Name "Goldrauschtrank" bedeutet und vielleicht ebenfalls auf Goldgier anspielt. Damit wäre der erste Krieg der Welt wegen des Hungers nach Gold geführt worden.

Mit dem Wolf in der zweiten Zeile ist vielleicht ein Ausgestoßener gemeint. Waldgänger, also aus der Gesellschaft Verbannte, wurden als vargr (Wölfe) bezeichnet. Außerdem erinnert der Wolf an die Ungeheuer der Mythologie, an den Fenriswolf und Ragnarök, das in der Vǫluspá als "Wolfszeit" bezeichnet wird.

u-Strophe, "úr"

u er af illu iarne.

oft lǫyper ræin a hiarne

 

Anders sieht die Abschrift und Übersetzung bei Ole Worm aus:

 

Ur er af ellu jarni.

 Opt sleipur Rani a hiarni.

 

(Schlacke/Schmiedeabfall) kommt von schlechtem Eisen,

oft läuft das Rentier auf Harschschnee.

 

 

 

Schmiedeabfall kommt von glühendem Eisen,

oft rutscht der Ski auf Harschschnee.

 


Bereits der Anvers überliefert eine unterschiedliche Bedeutung des Adjektives illu oder ellu bei Árni Magnússon/Jón Eggertsson und Ole Worm, im Abvers variiert die Überlieferung vollständig. Aufgrund der in der Zusammenfassung genannten Unkenntnis des Altnorwegischen von Ole Worm ist davon auszugehen, dass seine Fassung auf falscher Lesung beruht.

 

Bei dem Kontext des Schmiedes denkt man im nordisch-mythologischen Kontext zu allererst an Wölund den Schmied. Dessen Sage beginnt damit, wie er gemeinsam mit seinem Brüdern mit Skiern über das Eis läuft und Wild jagt.

þ-Strophe, "þurs"

þ vælldr kvenna k…

kater værdr faar af illu

 

(Riese) verursacht der Frauen Qual,

fröhlich werden wenige vom Übel.

 


Der Name þurs ist gut belegt und wird lediglich in Britannien als þorn bezeichnet.

Sowohl die Abschrift von Árni Magnússon als auch von Jón Eggertson ist im Anvers lückenhaft, einzig Ole Worm überliefert das Wort kvillu (von kvilla, also 'Qual'). Aufgrund von Silbenzahl, Stabreim und Endreim spricht eigentlich alles für dieses Wort, außerdem wird es ebenso im altisländischen Runengedicht umschrieben. Es ist nicht geklärt, ob mit þurs der Runenname oder der Thurse gemeint ist. Klaus von See erwägt aufgrund weiterer Überlieferungen der Rune, dass diese nur Frauen Unglück bringe. Nach Runólfur Jónsson bezieht sich der Vers auf Seneca und meint, dass die Natur der Frauen unmoralisch sei.

Bemerkenswert sind die Belege einer þurs-Rune für einen Fluch im Skírnismál und auf dem Kefli B257 (siehe 'Artikel in Arbeit'). Außerdem wird diese Rune in einem isländischen Buch für schwarze Magie aus dem 16. Jahrhundert genannt (zitiert nach Klaus von See): "Wenn du eine Frau verhexen willst, damit sie nirgends hinfindet außer zu dir, ... ritze ... diese Stäbe: dreimal 'umgekehrte' (?) Moldþurs- und Maðr-Runen." 

o-Strophe

o er læid flestra færda.

en skalper er sværda

 

(Flussmündung) ist der Weg der meisten Fahrten,

die Scheide ist [derjenige] der Schwerter.

 


Die óss-Strophe wird zwar bei den drei Primärquellen mehr oder weniger gleich transkribiert, in Manuskript AM738 und bei Runólfur Jónsson aber fanden leichte Verbesserungen statt. Das liegt daran, dass sowohl das Versmaß als auch die Alliteration nicht übereinstimmt (falsche Silbenzahl und der f-Stab auf dem ersten Wort des Abverses fehlt). Aus diesem Grund schlägt Jónsson fǫr (Weg), AM738 dagegen fǫt (Kleider, von fat) vor. Die Übersetzungen lauten dementsprechend: "die Scheide ist der Weg der Schwerter" beziehungsweise "die Scheide ist die Kleidung der Schwerter".

Runólfur Jónsson sieht den Zusammenhang zwischen An- und Abvers in der Zuflucht, einmal der Schiffe, einmal der Schwerter. Alessia Bauer interpretiert den Abvers aufgrund des Schwertes als negativ. Diesen Gedanken halte ich allerdings für modern, da ich nicht glaube, dass ein Schwert zu dieser Zeit zwingend negativ konnotiert sein musste.

Im altnorwegischen Runengedicht wird also die Bedeutung óss = (leichte) Strömung dargestellt. Das steht im Gegensatz zum altisländischen Gedicht, in dem die Bedeutung auf Odin beruht. Obwohl das altnorwegische Runengedicht eigentlich keine deutliche Ent-Paganisierung vornimmt, ist an dieser Stelle denkbar, dass Odin als zu krasser Gegensatz zu Christus empfunden wurde. Bemerkenswert, dass dahingegen das deutlich christlichere angelsächsische Runengedicht ausgerechnet diese Strophe mit Odins Namen wohl unberührt ließ.

r-Strophe

r kvæda rossom uæsta.

reghin s… sverdet baðzsta

 

(Reiten) ist das Schlimmste für die Pferde,

Regin [schmiedete] das beste Schwert.

 


Über die reið-Strophe herrscht keine Einigkeit. Bereits bei dem Anvers, der in den Primärquellen gleich überliefert wird, ist sich die Forschung nicht einig, ob es sich um das überlieferte Wort vesta 'am schlimmsten' oder fasta 'Hunger, Fasten' handelt. Gegen den Superlativ spricht nämlich das falsche Genus des Wortes, Feminin anstelle von Neutrum.

Dasselbe Problem findet sich auch im Abvers, wo dem Neutrum-Wort sverð der weibliche Superlativ badzta 'das beste' zugeordnet wird. Problematisch ist außerdem die Lücke nach reghin. Gesucht wird höchstwahrscheinlich ein Verb, das mit s beginnt. Vorgeschlagen wurden bereits smíðar, sauð und sló, was alles so viel wie 'schmieden' bedeutet. Die Übersetzung von reghin selbst ist ebenfalls nicht gesichert: Einerseits wird der Name des Zwerges Regin vorgeschlagen, andererseits kann es auch als Tadel ("Tadel ist ein sehr scharfes Schwert") übersetzt werden. Ole Worm interpretiert es gar als Name eines Schwertes, dafür fehlen allerdings Hinweise, ob dieser Schwertname zu dieser Zeit bereits bekannt war.

Die Strophe deutet vielleicht auf den Zwerg Regin hin, der Sigurds Schwert Gram schmiedete. In Bezug auf das Pferd im Anvers meint Alessia Bauer, dass sich der Text auf die Völsungensage bezieht, wo Sigurd durch eine Flammenwand reitet und das Feuer daraufhin erlischt.

k-Strophe

k er bæggja barna.

bol gỏrvir naan folfvan

 

(Geschwür) ist eine Plage für die Kinder,

Unglück macht den Leichnam aschfahl.

 


Die Strophe von kaun bereitet der Wissenschaft Schwierigkeiten. Das Reimschema entspricht nicht dem üblichen (kein Endreim) und das Wort, das den Stab auf dem Abvers trägt (bol) wird bei Jón Eggertsson noch dem Anvers zugerechnet (ein sogenanntes Enjambment). Einzig bei Ole Worm findet sich ein Endreim (folvarna anstelle von folfvan). Allzu viel ändern die Zweifel allerdings nicht an der Bedeutung der Strophe, die sehr negativ konnotiert ist.

Wimmerer glaubt anstelle von naan das Wort mann 'Mensch'  zu erkennen, was sich aber bei Betrachtung der drei Primärquellen als eindeutig falsch herausstellt.

Bemerkenswert an der Strophe von kaun sind die Ähnlichkeiten zu einem Vers einer Lausavísur von Hallbjörn Oddsson aus dem 10. Jahrhundert (bǫl gervir mik fǫlvan, 'das Leid macht mich aschfahl') sowie der Atlakviða, Strophe 16, wo es nár nauðfǫlva 'notfahle Leiche' heißt.

h-Strophe

h er kalldazstar korna.

Krister skom [skop] hæimen forna

 

(Hagel) ist das kälteste aller Körner,

Christus erschuf die alte Welt.

 


Bis auf Árni Magnússons Abschrift (oben) stimmen alle Abschriften überein. Bei skom handelt es sich jedoch ziemlich sicher um eine Verschreibung von skop.

 

Mit Hagal beginnt das zweite Aett und somit jenes, das der Schreiber christlich prägte. Legt man die beiden Querstäbe der Rune in eine klare waagrechte Linie, so erhält man ein Kreuz mit doppeltem Querbalken. Gleichzeitig erinnert das X an den griechischen Buchstaben Chi, mit welchem das Wort Christus beginnt. Aus diesem Grund mag die Rune Hagl für Christen besonders anziehend gewesen sein.

Im Altisländischen gibt es das Wort hagleikr 'Kunstwerk'. Runólfur Jónsson und Jón Ólafsson glauben, dass die Verbindung von An- und Abvers auf dieser sprachlichen Ähnlichkeit beruht und die Weltschöpfung somit als Kunstwerk angesprochen wird.

n-Strophe

n gerir næppa koste.

nỏktan kælr i froste

 

(Not) verursacht bedrängten Zustand,

ein Nackter friert im Frost.


Die Überlieferung dieser Strophe stimmt in den Abschriften überein von einem kleinen Schreibfehler von Ole Worm abgesehen. Im Anvers wird ein allgemeiner Zustand der Not beschrieben, im Abvers wird dieser durch ein Beispiel präzisiert. Laut Bauer sei es kein Zufall, dass diese Anspielung direkt nach der Christus-Strophe steht, damit sei ein Appell an die christliche Nächstenliebe gemeint und der Leser dazu angehalten nach diesem Sinne zu handeln.

i-Strophe

i kollum bræ [brú] bræida.

blindan þarf at læida

 

(Eis) nennen wir den breiten Gletscher [Brücke],

ein Blinder bedarf der Führung.


Die Abschriften unterscheiden sich hier anhand von wahrscheinlichen Rechtschreibfehlern. So bezeugen Jón Eggertsson und Árni Magnússon das Wort bræ 'Gletscher', wohingegen Ole Worm von brú 'Brücke' schreibt. Aufgrund der zahlreichen Belege des Ausdrucks "Eis ist die breiteste Brücke" geht man davon aus, dass in diesem Fall Eggertsson und Magnússon falsch abschrieben. Denkbar ist in meinen Augen auch eine Fehlerhaftigkeit ihrer Quelle, die Ole Worm korrigierte, die anderen beiden aber so beließen.

Im Abvers benutzt Worm das Wort traf anstelle von þarf, dabei handelt es sich sicherlich um einen Fehler.

Die Forschung sucht noch immer nach Verbindungen zwischen An- und Abvers, Düwel meint, dass Brückenbau als fromme Arbeit verstanden wurde. Alessia Bauer glaubt in der Form der i-Rune eine Anspielung auf den Blindenstock zu sehen; eine Vermutung, die ich persönlich nicht teile.

a-Strophe

a er gufna goðe.

get ek at orr var froðe

 

(Gutes Jahr) ist ein Segen für die Menschen,

ich glaube, Frodi war freigebig.


Die Überlieferung stimmt im Großen und Ganzen überein, mit Ausnahme des Manuskriptes AM 738 4tox, bei dem der Verfasser die Zeile wohl der Vollständigkeit halber neu dichtete.

Das gute Jahr im Anvers wird mit König Frodi im Abvers in Verbindung gesetzt. In den Quellen heißt es überall, Frodi wäre freigiebig gewesen, sei es bei Snorri im Háttatal, sei es bei Saxo Grammaticus in seinen Gesta Danorum. In der Strophe wird also eine gute Zeit des Friedens und des Überflusses behandelt. Dies steht im starken Gegensatz zu den beiden heidnischen Aettir, die mit Ragnarök gleichzusetzen sind.

s-Strophe

s er landa liome

luti ek helgum dome

 

(Sonne) ist das Licht der Länder,

ich unterwerfe mich dem heiligen Urteil.


Mit der sol-Strophe endet das zweite Aett. Sonne, Licht und Helligkeit sind deutliche Anspielungen auf Christus und das Christentum; diese werden auch in anderen skandinavischen Überlieferungen so gebraucht.

Liestøl sieht in der Form des s-Rune ein gebeugtes Knie zur Unterwerfung, die Form der Rune im überlieferten Gedicht war war allerdings die Kurzzweigrune s. Liestøls Anmerkung könnte dagegen auf die punktierte Rune knésol zutreffen (siehe Rezeption des altnorwegischen Runengedichts)

t-Strophe

t er æinendur asa

opt værðr smidur at blasa

 

(Týr) ist der einhändige Ase,

oft muss ein Schmied blasen.


Im Gegensatz zum angelsächsischen Runengedicht wird die týr-Rune in ihrer heidnischen Ursprungsbedeutung überliefert. Hier beginnt das dritte und letzte Aett, erneut stehen düstere, heidnische Bilder dahinter.

Die Forschung interpretiert die Strophe hinsichtlich Týrs Opferung seiner Hand, indem er diese dem Fenriswolf zum Pfand in den Rachen legt. Inwiefern der Abvers damit zusammenhängt, ist umstritten. Worm sieht in der Erwähnung von Týr eine Anspielung auf Verstümmelung und damit auf die unvollkommene menschliche Natur. Durch Arbeit müsse der Mensch versuchen, vollkommen zu werden. Jón Ólafsson glaubt eher, die Strophe spiele auf das Wort tý-vaskr 'eifrig' an, das die Tätigkeit des Schmiedes beschreibe. Es sei hinzugefügt, dass týr häufiger zu unterschiedlichen Adjektiven hinzugefügt wurde, um diese in ihrer Bedeutung zu verstärken (vergleichbar mit dem heutigen "mega" oder "super" in megatoll oder superstark bzw. mit dem wienerischen "ur", das sich auch in "urkomisch" findet).

b-Strophe

b er lauf grỏnzster lima.

loke bar flærdar tima

 

(Birkenzweig) ist der blattgrünste Ast,

Loki brachte trügerische Zeiten.


Der Runenname biarkan bildet ein hapax legomenon und bedeutet wohl Birkenreis. Olsen und Schröder sehen in laufgrœnstr lima eine Anspielung auf Lokis Mutter Laufey, deren Name 'die Laubreiche' heißen könnte. So würde eine Verbindung zwischen An- und Abvers entstehen. Zusätzlich könnte der grüne Birkenzweig ideologisch für den Mistelzweig stehen, durch den Loki Balder indirekt tötete.

Loki taucht hier als Unruhestifter und Ankündiger Ragnaröks auf, tatsächlich ist er im Christentum mitunter noch heute ein Synonym für den Teufel.

m-Strophe

m er molldar auki

mykil er græip a hauki

 

(Mensch) ist des Staubes Zuwachs,

groß ist die Klaue des Habichts.


Die Darstellung des Menschen als Körper aus Staub und die Erwähnung der Habichtklaue stehen in einem Gegensatz zueinander. Gemeint könnte damit sein, dass der Mensch der Natur unterlegen ist. Eine weitere Deutung liegt in der altisländischen Bedeutung für haukr oder haukmaðr, was so viel wie 'schneller, junger Mann' bedeutet. In dem Fall würden sich beide Verse direkt auf den Menschen beziehen. Liestøl dagegen meint, der Abvers sei rein auf die Krallenform der Rune bezogen.

l-Strophe

l er þat er fællr or fialle

foss en gull ero nosser

 

(Wasserfall) ist das [Wasser], das vom Berg niederstürzt,

aber Kleinode sind Gold.


Während der Anvers der Strophe in den Überlieferungen übereinstimmt, gehen die Meinungen im Abvers auseinander. Jón Eggertsson und Árni Magnússon schreiben "foss en gull ero nosser", 'aber Gold sind Kleinode' (foss nicht mitübersetzt, da es zum Anvers gehört und wegen Enjambment an den Abvers geknüpft wurde). Ole Worm dagegen schreibt: "Fost en gul eru nalli", also "Gold ist festes [Eigentum] von nalli", wobei nalli unbekannt ist und daher nicht übersetzt werden kann. Da Worm auch andernorts bereits durch Korrekturen in den Text eingegriffen hat, ist es meines Erachtens denkbar, dass er auch an dieser Stelle eine Verbesserung vornehmen wollte um den Endreim der Strophe zu korrigieren.

Der Runenname lautet lǫgr, was so viel wie Wasser bedeutet. Ein verwandtes Wort im Altisländischen heißt lǫg und heißt Geldverschwendung. Laut Jón Ólafsson wäre es denkbar, dass über diese Wortverwandtschaft eine Verbindung zwischen den Zeilen besteht. In dieser Bedeutung würde zwischen dieser Strophe und der a-Strophe eine Verbindung bestehen: Im christlichen Aett wird der freigiebige Frodi genannt, im heidnischen Aett ist der Fürst verschwenderisch bzw. geizig.

Insgesamt scheint die Strophe, indem sie Wasser und Gold nennt, auf den Nibelungenschatz im Rhein anzuspielen. Ebenfalls damit zu tun haben könnte der Zwerg Andvari, bei dem der Nibelungenschatz zu allererst war, ehe Loki ihn dessen beraubte, und außerdem als Fisch im Wasserfall Andvarafoss lebte.

y-Strophe

y er veter grỏnster vida.

vant er þar er brenr at sviða

 

(Eibe) ist der grünste Baum des Winters,

gewöhnlich sengt es, wo es brennt.


Quelle

Bauer, Alessia: Runengedichte. Texte, Untersuchungen und Kommentare zur gesamten Überlieferung. In: Simek, Rudolf: Studia Medievalia Septentrionalia Band 9, 2003