Die norditalische These

Im Gegensatz zu der lateinischen und der griechischen These kommen bei der norditalischen These diverse Alphabete als Vorlage für die Runen in Betracht. Zahlreiche Funde in der Gegend um Norditalien belegen verschiedene Schriften, die sich ähneln, aber nicht identisch sind. Diese scheinen von der griechischen Schrift abzustammen und kommen ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. auf. Ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. werden sie allmählich von der lateinischen Schrift ersetzt, nachdem sie bereits zuvor mehr und mehr von lateinischen Buchstaben durchsetzt wurden.
Zu den Alphabeten zählen verschiedene Gruppen von Schriften und Sprachstufe, wobei nur eine davon etruskisch ist, die zweite keltisch, die letzte italisch. Aus diesem Grund ist die Bezeichnung „etruskisch” oder „nordetruskisch” eventuell irreführend — tatsächlich scheinen aber alle diese Schriften auf eine gemeinsame etruskische Wurzel zurückzulaufen.
Die Gruppen, in welche diese Schriften eingeteilt werden, sind jeweils nach einem Hauptfundort benannt, die Schrift selbst reicht geographisch darüber hinaus (Arntz, folgende Aufzählung übernommen aus dem RGA).

  1. Die venetische Sprache und Schrift (zur italischen Sprache gehörend), welche die Varianten von Este, Padua, Vicenza, Cadore, Gailtal und dem Isonzo-Gebiet beinhaltet.
  2. Die rätische Sprache und Schrift (zur etruskischen Sprache gehörend), die sich vor allem um das Etsch- und Eisack-Gebiet verteilt. Hierbei unterscheidet man außerdem die Typen von Magré, von Bozen und von Sondrio.
  3. Die lepontische Sprache und Schrift (zur keltischen Sprache gehörend), die sich um den Lago Maggiore und Lago di Como verbreitet.


Es ist relativ unwahrscheinlich, dass nur eine der Schriften als Vorlage für die Runen herhielt (sofern man die norditalische These überhaupt in Erwägung zieht). Vielmehr finden sich Übereinstimmungen in den verschiedensten Alphabeten, die sich allerdings allesamt auf Norditalien lokalisieren lassen.
Heute ist norditalische These nicht die favorisierte. Elmar Seebold schreibt dazu:

 

„Die Forschungsdiskussion war von Anfang an dadurch belastet, dass sich der Hauptvertreter dieser Hypothese, Marstrander, auf die Inschrift des Knochenpfriems von Maria Saal stützte, die wenig später als Fälschung erwiesen wurde.”
Seebold in: RGA 21, S. 312

 

Helmut Arntz, auf den sich der folgende Artikel stützen wird, wusste um die Fälschung und hielt dennoch an der norditalischen These fest.

Allgemeines

Das Verbreitungsgebiet der norditalischen Schriften liegt zwischen Römern und Germanen: Germanen und Norditaliener waren also sogar direkte Nachbaren. Dass außerdem ihr Lautsystem gut zueinander passte, lässt die Theorie des norditalischen Einflusses zusätzlich interessant wirken.
Bei ersten Untersuchungen fand man jedoch nur wenig Übereinstimmungen, was die Buchstabenformen anging. Pedersen zog dafür das venetische Alphabet von Este heran, worin Arntz den Grund des Scheiterns sieht: Konzentriert man sich auf ein Alphabet alleine, so sind die Ergebnisse dürftig. Erst bei Betrachtung sämtlicher Alphabete wird die Nähe zwischen Runen und norditalischen Schriften augenfällig.

 

„Die spätere Forschung hat aber nachgewiesen, dass alle in Norditalien belegten Alphabete den Schriftzeichen (natürlich nicht der Sprache der Inschriften) nach wirklich ‚nordetruskisch’ sind. Wir gehen heute von einem chalkidisch-etruskischen Grundalphabet des 8. Jahrhunderts aus, dem alle italienischen Alphabete (außer dem messapischen […] und dem sikulischen] entstammen. Als die Etrusker im äußersten Südosten Italiens zuerst Fuß fassten, brachten sie dieses griechische Alphabet bereits mit.
[…]
Die verwirrende Fülle der norditalischen Schriften zeigt, welches Leben dort auf dem Gebiet der Schriftumgestaltung und Schriftentwicklung herrschte. Diese Vielfalt ist zweifellos der Tatsache zuzuschreiben, dass mindestens sechs verschiedene Völkergruppen ‚norditalisch’ schrieben und das griechische Alphabet ihrem Lautstand anpassen mussten: Etrusker, Räter, Illyrer (Veneter), Kelten, Latiner — und Sabeller? — sowie Germanen.”
Arntz, S. 32-33

 

Mit den Germanen meint Arntz den Helm B von Negau, welcher zu den ältesten Denkmälern germanischer Sprache gehört. Es ist nicht gesichert, wann die Inschrift darauf angebracht wurde, vermutlich war es aber das 2. Jahrhundert v. Chr.

Während das lateinische Alphabet nicht sämtliche Runen unterzubringen vermag, weist Arntz darauf hin, dass fast alle Runen Entsprechungen in den norditalischen Alphabeten finden:

  1. die Runen, die bereits im lateinischen Alphabet untergebracht werden können, finden sich auch in den etruskischen wieder (teilweise, weil sie vorher aus dem lateinischen ins etruskische importiert wurden),
  2. die Runen, die im lateinischen Alphabet keine Entsprechung fanden, dagegen aber im etruskischen,
  3. und schließlich die Runen, die weder im lateinischen, noch im etruskischen Alphabet eine Entsprechung finden. Diese betreffen allerdings rein germanische Laute, für welche die norditalischen Völker keine Verwendung gehabt hätten und betrifft die Laute j, ŋ und þ.

Die norditalischen Varianten der Runen

  Norditalische Übereinstimmungen in ... Lateinisches Alphabet
F Giubasco Ähnlich im lateinischen Alphabet, vermutlich Entlehnung
U Valle Cadore, in Este, im venetischen Alphabet, Lugano. Nebenformen in Lugano und Sondrio  
Þ Vorstufe in Magrè und Bozen  
A Sondrio, Lago Maggiore, Comer See  
R Andergia bei Mesocco (St. Bernhard); Vorstufen in Maroggia am Luganersee, Breccia, Este, Vira-Gambarogna Identisch im lateinischen Alphabet
K Als Vorstufe in Lugano, Bozen, Verona, Magrè, Este; in gleicher Form bei Rotzo (Bassano) Identisch im lateinischen Alphabet (als C)
G In keinem Alpenalphabet belegt, da diese K für G schrieben Relikt aus dem griechischen Alphabet
W Vorstufen in Venedig, Verona, Este Sehr schwierige Herleitung
H In allen Inschriften (mit mehreren Querverbindungen), in Bozen mit zwei Ähnlich im lateinischen Alphabet
N Val Camonica  
I In allen italischen Alphabeten Identisch im lateinischen Alphabet
J Keine lautliche Entsprechung in Oberitalien Ähnlich im lateinischen Alphabet (als G)
EI Keine italische Vorlage  
P Vorstufen in Este, Charnay, Breza Sehr schwierige Herleitung
Z Charnay, Sondrio, Val Camonica; Vorstufe in Watsch  
S Etrurien, Lugano  
T Bellinzona (Graubünden), Würmlacher Wiesen, Sanzeno nell’Anaunia Ähnlich im lateinischen Alphabet
B Sondrio Identisch im lateinischen Alphabet. In den etruskischen Alphabeten vermutlich von den Römern übernommen
E Leicht variiert in Etrurien und Lugano Ähnlich im lateinischen Alphabet
M Giubiasco, in Varianten in Magrè und Ornavasso Ähnlich im lateinischen Alphabet
L Venetisches Alphabet, Este, Gurina, Valle di Cadore, Vicenza u.a.  
NG Keine Belege Vermutlich germanische Neuschaffung
D Sondrio, Lugano, Este  
O Lugano, östliche Lombardei  

Aus dieser Liste lässt sich bereits schließen, dass sich aus den norditalischen Alphabeten etwa 18 Runen herleiten lassen, wo dem nur 10 Runen aus dem lateinischen Alphabet gegenüber stehen. Zu einer genauen Aufschlüsselung siehe „Die formale Herleitung der Runen” (Artikel folgt in Kürze).

Die norditalischen Alphabete - Übersicht
Die norditalischen Alphabete - Übersicht

Nachdem Arntz dreiviertel der Runen erfolgreich aus den norditalischen Schriften herleitet, zieht er ein erstes Fazit:

 

„Unsere Beweisführung ist längst abgeschlossen. Von den 24 Runen des Fuþark ließen sich 18 nach Form und Bedeutung tadellos aus den norditalischen Schriften herleiten. Das ist weit mehr, als wir bei einer solchen Ableitung überhaupt erwarten können. Wenn wir uns die restlichen sechs Runen ansehen, ist es bei j, ŋ, ė und þ von vorneherein nicht glaubhaft, dass sie in einer antiken Schrift lautliche Entsprechungen fanden; und d und g konnten in der Vorlage durch t und k bezeichnet werden.”
Arntz, S. 46

Die Schreibrichtung

Die Runen können sowohl von links nach rechts als auch von rechts nach links geschrieben werden. Auch beide Richtungen sind möglich; wechselt es bei jeder Zeile, so spricht man vom Bustrophedon, also der Pflugwendeform. Sowohl Griechen als auch Römer kannten Linksläufigkeit in ihrer Schrift, allerdings gaben sie diese schon verhältnismäßig früh zugunsten der Rechtsläufigkeit auf: Die Griechen im 8. Jahrhundert v. u. Ztr., die Römer im 3. Jahrhundert v. u. Ztr. Anders sah es bei den norditalischen Alphabeten aus, die bis zuletzt sowohl links- als auch rechtsläufig waren und somit mit den Gewohnheiten der Runenschrift übereinstimmen.
Da bei einer linksläufigen Schrift das Geschriebene von der Hand verdeckt wird (sofern der Schreiber Rechtshänder ist, was bei einem Großteil der Menschen der Fall ist), entwickeln sich Schriften eher von der Links- zur Rechtsläufigkeit, nicht umgekehrt. Aus diesem Grund ist es unwahrscheinlich, dass sich die Runen aus einer Schrift entwickelten, die einzig rechtsläufig war, und Linksläufigkeit dazu erweitert wurde. Glaubhafter ist eine Übernahme aus den norditalischen Schriften.

Weitere Schreibgewohnheiten

Auch die Zeichen, mit denen Worttrennungen deutlich gemacht werden wollen, entsprechen dem etruskischen Vorbild: Wie in Norditalien ist es auch bei der Runenschrift gewöhnlich, wenn die Wörter zusammengeschrieben, nicht getrennt werden. Kommt es aber zu solch einer Kennzeichnung, dann sind häufig mehrere Punkte übereinander typisch.

Schließlich sind noch die Doppellaute zu nennen: In der Runenschrift sind Doppellaute nur selten verschriftlicht, und wenn, dann nicht aus linguistischen Gründen, sondern vermutlich eher zu magischen Zwecken. Erst mit Aufkommen der lateinischen Schrift, finden sich Doppellaute vermehrt.
Dieser Verzicht auf Doppellaute ist teilweise derart streng, dass selbst über Wortgrenzen hinaus (selbst bei unterschiedlichen Sätzen) auf das zweifache Schreiben derselben Rune verzichtet wird. Das ist insofern bemerkenswert, weil sowohl die griechische als auch die lateinische Schrift Doppelkonsonanten kennt, während die norditalischen Schriften auch hier mit der Runenschrift übereinstimmen. Stammten die Runen aber von der griechischen oder lateinischen Schrift ab – warum hätte man diese Änderung der Schreibgewohnheiten einführen sollen?

Ort und Zeit der Übernahme

Die Übernahme der Schrift muss auf jeden Fall nach der ersten Konsonantischen Lautverschiebung stattgefunden haben, also nach dem 5. bis 3. Jahrhundert v. u.Ztr. Dazu passt auch die Phase der norditalischen Schriften: Bis ins 4. und 3. Jahrhundert v. u. Ztr. waren die Schriften frei von römischem Einfluss, ab 180 v. u. Ztr. dringen lateinischen Zeichen mehr und mehr ein, bis die norditalischen Alphabete um etwa 80 v. u. Ztr. vollständig vom lateinischen Alphabet verdrängt wurden. Da das Futhark sich zu einer Zeit entwickelt haben muss, in dem die lateinische Schrift noch keinen nennenswerten Einfluss auf die norditalischen Alphabete hatte, geht Arntz von etwa 180 v. u. Ztr. aus.

Geographisch wird der Norden als Entstehungsort kategorisch ausgeschlossen und stattdessen in den Süden verlegt, gleichwohl die Funde dort äußerst karg sind.

 

„Denn obgleich die Runen bei den Nordgermanen eine Ausbreitung wie bei keinem anderen germanischen Stamm gefunden haben, ist es aus geschichtlichen Gründen unmöglich, dass sie bei ihnen entstanden sind.
[…]
Die Lebensdauer des Fuþarks mag in seinem Entstehungsgebiet sehr kurz gewesen sein. Das lateinische Alphabet stieß nach; und es ist als großes Glück zu bezeichnen, dass die Runen vorher an andere germanische Stämme weitergegeben worden waren. Jahrhunderte später wiederholt sich dieses Schicksal, als die germanischen Heldenlieder aus ihren Entstehungsgebieten nach Norden weichen und schließlich nur im fernen Island erhalten bleiben.”
Arntz, S. 52-53

Die Fundlücke, die sich für die Zeit seit der vermuteten Übernahme um 180 v. u. Ztr. und den ersten Runenfunden ergibt, ist nicht weiter erstaunlich. Erste Inschriften wurden wahrscheinlich nicht auf Steinen, sondern auf losen Gegenständen angebracht, die vielleicht verloren gingen. Auch sind solche Zeitlücken nicht weiter ungewöhnlich: Düwel setzt 100-200 Jahre als normal an, Arntz 200-300 Jahre.

Welches Volk kommt infrage?

Arntz betont, dass es unwahrscheinlich ist, dass ein germanisches Volk die Schrift von den norditalischen Völkern direkt übernommen hätte — dafür fehlt kulturelle Verbundenheit und genügend Zeit, vor allem, da nicht nur die Schrift an sich, sondern auch Schreibgewohnheiten übernommen wurden (Doppelkonsonanten, Trennungszeichen). Stattdessen kann davon ausgegangen werden, dass Alpengermanen die Schrift übernahmen und anschließend an einen germanischen Stamm weitergaben. Von dort wanderten die Runen längs des Rhein nach Norden.

 

„Es scheint uns keine zu kühne Annahme, dass die Alpengermanen ebenso wie zuerst die Etrusker und die Rääter, dann die Ligurer und Euganeer, endlich die Veneter und Kelten das norditalische Alphabet aufgenommen haben. Als die Kimbern in die Alpen eindrangen, übernahmen sie die Schrift, Germanen von Germanen …”
Arntz, S. 61

 

Nimmt man die Kimbern als jenen germanischen Stamm an, welcher die Runen schließlich über die Alpen nach Norden brachte, so kann man das Jahr auf 102 v. u. Ztr. festsetzen. In diesem Jahr überquerten sie die Alpen, vielleicht über den Brenner, und verbrachten den Winter in der nördlichen Poebene. In der Schlacht von Vercellae wurden sie schließlich vernichtend geschlagen, der Stamm hörte daraufhin auf zu existieren, Überlebende zogen sich möglicherweise in die Alpen zurück und schlossen sich dort mit anderen Germanen zusammen. Düwel kritisiert allerdings, dass ein zerschlagener Stamm sicherlich anderes im Sinne hatte, als eine neue Schrift zu erfinden oder mitzubringen.

Kaufmännische Beziehungen als Grundlage für die Wanderung der Runen hält Arntz für unwahrscheinlich. Handel erfordert eine Gebrauchs-, keine Kultschrift, wie man es für die Runen annehmen kann.

Der Helm B von Negau

Auch wenn der Fund des Helmes B von Negau mit Vorsicht zu genießen ist, da nicht klar ist, wann, wo und von wem er beschriftet wurde, so ist er dennoch ein Stück von unschätzbarem Wert: Mit norditalischen Schriftzeichen wurde darauf eine germanische Inschrift fixiert, welche damit die älteste germanische Inschrift überhaupt ist. Er wurde wohl im 5. Jahrhundert v. u. Ztr. hergestellt und im 1. bis 2. Jahrhundert deponiert.
Auch wenn viele Fragen offen sind, so kann doch eines festgehalten werden: Der Helm B von Negau verbindet norditalische Schriften mit germanischer Sprache und schafft so eine deutliche Beziehung zwischen oberitalischer Schrift und den Germanen.

Helm B von Negau
Helm B von Negau
Inschrift auf Helm
Inschrift auf Helm


Quellen

Arntz: Arntz, Helmut, Handbuch der Runenkunde, Edition Lempertz, Königswinter 2007 (1944).
Düwel: Düwel, Klaus, Runenkunde, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart Weimar 2008.
Krause: Krause, Arnulf, Runen, Marixverlag, Wiesbaden 2017.
RGA: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd 21, Walter de Gruyter Verlag, Berlin & New York 1999, S. 312.

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